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Sibelius: Sinfonie Nr. 1 e-Moll op. 39

(UA Helsinki 1899) Auf der Europatournee eines unbekannten finnischen Orchesters erregte die erste Sinfonie eines bis dahin unbekannten finnischen Komponisten Aufsehen. Wer war dieser 34-Jährige mit dem französisch klingenden Vornamen? Er schien – nicht mit Tradition belastet (wie Brahms), nicht von Wagner beeinflusst (wie Bruckner), nicht an sich selbst, der Gesellschaft oder der Welt leidend…

(UA Helsinki 1899)

Auf der Europatournee eines unbekannten finnischen Orchesters erregte die erste Sinfonie eines bis dahin unbekannten finnischen Komponisten Aufsehen. Wer war dieser 34-Jährige mit dem französisch klingenden Vornamen? Er schien – nicht mit Tradition belastet (wie Brahms), nicht von Wagner beeinflusst (wie Bruckner), nicht an sich selbst, der Gesellschaft oder der Welt leidend (wie Tschaikowsky und Mahler), nicht naiv (wie Dvorak), und nicht raffiniert (wie Strauss).

Sibelius’ Sinfonik ist frei, frisch, gesund und kräftig, aber sie entstammt einer Landschaft, die einsam, karg und kühl ist – „in welcher Trauben nicht süß werden“ (Martti Talvela), in welcher es sommers nicht dunkel und winters nicht hell wird. Finnland war eine Gesellschaft ohne Hierarchie und hatte noch keine Staatsform. Eine schriftliche Sprache und ein eigenes Traditionsbewusstsein (Kalevala) gab es erst seit Kurzem. 1899 begann der Widerstand gegen die russische Administration.

Ein ausdrucksvolles, langes, sich allmählich in der Tiefe verlierendes Klarinettensolo bildet die Einleitung zum ersten Satz. Dessen Hauptthema (Violinen) besteht aus einem sich aufladenden langen Ton, der sich in einem heftigen kurzen Motiv entlädt. Das Seitenthema entsteht aus einem gedehnten Moment (Oboesolo), der in ekstatisch rauschhafte Bewegung gerät. Die Durchführung führt vorbei an Granitfelsen (Posaunen) und Seen (Violinsolo), über Heide (pizzicato) bis in dichten Wald. Hier ereignet sich die „unheimliche“ Reprise: An jedem „Baum“ wächst das Hauptthema (Bläser), es liegt „in der Luft“ (Streicher), aber erst, wenn wir „ins Freie“ treten – ein unvergesslich herrlicher Augenblick! – merken wir, wo wir sind: Bei uns selbst …

Das Andante klingt wie im Traum (gedämpfte Streicher), dann scheinen sich Raum und Zeit dramatisch zu dehnen – nach einer Pause merken wir, dass erst zwei Takte vergangen sind …

Das Scherzo hat Sonatenform mit zwei Themen (die hämmernde Pauke und die tanzende Viola) und Durchführung (Fugato), hat aber auch ein ausdrucksvolles Trio (die romantischen Hörner).

Das Finale beginnt mit der Reprise des einleitenden Klarinettensolos, jetzt vom ganzen Orchester vorgetragen – ein großer architektonischer Bogen spannt sich. Dann werden rezitativartig kämpferische, ja kriegerische Töne angeschlagen. Das knappe Hauptthema wirkt wie eine Parole, das Schlagzeug steht Gewehr bei Fuß … da erscheint das Seitenthema, Sehnsucht erwacht …

Das Schönste an diesem schwelgerischen Seitenthema (Violinen, Harfe) ist, dass man bei seinem dunkel glosenden Erscheinen sofort vorausahnt, dass es am Schluss hell glühend wiedererscheinen wird – und so kommt es auch! Dennoch ist der Schluss der Sinfonie anders als erwartet, er ist auf ergreifende Weise dunkel, ernst – und vorläufig: Finnland hat sich noch nicht gefunden, und auch Sibelius ist noch auf dem Weg zu sich selbst …

(Mathias Husmann)

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