„Vier letzte Lieder“ – diese drei Worte mögen für die unter dieser Werküberschrift zusammengefassten Lieder von Richard Strauss noch so gut passen: Sie sind nicht korrekt. Weder sind die 1948 entstandenen Kompositionen die „letzten“ Lieder (denn es folgte mit „Malven“ noch ein weiteres), noch sind sie gesichert vom Komponisten für eine gemeinsame Werkgruppe vorgesehen gewesen. Der Verleger gab sie nach Strauss’ Tod als „Vier letzte Lieder“ heraus. Richard Strauss hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz zurückgezogen, beschäftigte sich mit „Handgelenksübungen“, kleineren Werken also, bis sein Sohn Franz ihm die Komposition von Liedern ans Herz legte.
Strauss und die Stimme, besonders die Sopranstimme: Sie hatten ein Komponistenleben lang bestens harmoniert. Klavierlieder und solche, die von vornherein als Orchesterlieder konzipiert gewesen waren, ziehen sich durch Strauss’ Schaffen, begünstigt durch die Tatsache, dass Gattin Pauline eine sehr gute Sopranistin war. So überreichte ihr Komponist im Jahre 1894 als Morgengabe zur Hochzeit die vier Lieder op. 27. Das erste dieser Lieder, „Ruhe, meine Seele“ nach einem Gedicht von Karl Henckell, nahm sich der Komponist in diesen Nachkriegsjahren wieder vor, um es zu orchestrieren. Thematisch passt es zu jener Eichendorff-Vertonung „Im Abendrot“, die am Schluss der „Vier letzten Lieder“ steht, auch wenn er sie als erstes und in einem länger andauernden Zeitraum komponierte.
Auseinandersetzung mit dem Tod: „Vier letzte Lieder“
Wie ein Spiegel für die eigene Situation muss Eichendorffs wunderbares Gedicht auf den 84-jährigen Komponisten gewirkt haben: „Wir sind durch Not und Freude/ gegangen Hand in Hand…“. Ein alterndes Paar blickt zurück, geborgen in der Natur, Abendstimmung senkt sich herab, zwei Lerchen steigen auf, Schlaf und Todesahnung verbinden sich. „Nachtträumend“ und „wandermüde“ sind die inspirierenden Worte, die großen Linien der Sopranstimme, die blühende Orchestereinleitung und das verlöschende Nachspiel sind wie ein einziges Ausatmen und Abschiednehmen, zwei Flöten steigen trillernd auf wie die im Text besungenen Lerchen. Es wundert nicht, dass Strauss hier auch mit einem Thema aus der Tondichtung „Tod und Verklärung“ sich selbst zitiert.
Dem „Im Abendrot“ vorangestellt sind drei Vertonungen von Gedichten Hermann Hesses, dessen Werke Strauss erst in dieser Zeit für sich entdeckt hatte. Auf kleinstem Raum schildern auch diese Gedichte einen Lebenszyklus, vom rauschend aufblühenden „Frühling“ zu den Herbstbildern von „September“ und dem feierlichen Hymnus von „Beim Schlafengehen“, in dem Schlaf, Tod und Transzendenz eine Einheit bilden. Für den Dirigenten Andrés Orozco Estrada, der die „Vier letzten Lieder“ mit dem hr-Sinfonieorchester interpretieren wird, setzt Strauss die Stimme als das „natürlichste Instrument der Menschheit“ ein. Und Anja Harteros, die Strauss-Sängerin unserer Tage und in diesem Konzert, sagt: „Das Schöne bei den ,Vier letzten Liedern‘ ist, dass sie ein bisschen wie ein Requiem anmuten. Im Grunde sind wir dankbar, dass wir das musizieren dürfen, dass Strauss uns das Werk noch geschenkt hat.“
Die wichtigsten Fakten zu Richard Strauss› „Vier letzte Lieder“:
Besetzung: Drei Flöten, zwei Oboen, English Horn, zwei Klarinetten, Bassklarinette, zwei Fagotte, Kontrafagott, vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Tuba, Pauke, Harfe, Celesta, Streicher
Nummern:
1. Frühling (Text: Hermann Hesse)
2. September (Text: Hermann Hesse)
3. Beim Schlafengehen (Text: Hermann Hesse)
4. Im Abendrot (Text Joseph von Eichendorff)
Aufführungsdauer: ca. 25 Minuten
Uraufführung: Die Uraufführung fand am 22. Mai 1950 in der Royal Albert Hall statt.
Referenzeinspielung:
Richard Strauss: „Vier letzte Lieder“
Elisabeth Schwarzkopf (Sopran)
Radio-Symphonie-Orchester Berlin
George Szell (Leitung)
Elisabeth Schwarzkopf war Richard Strauss› Werken zutiefst verbunden. In ihrem ganz eigenen Stil, der von außergewöhnlicher aritkulatorischer Präzision geprägt ist, haucht sie den „Vier letzten Liedern“ Leben ein. Auch zeigt sie sich in dieser Aufnahme als eine Meisterin der musikalischen Phrasierung und gestaltet jede Note mit vollstem künstlerischen Bewusstsein aus. Diese atemberaubende Darbietung kann sprachlos machen, weil Elisabeth Schwarzkopf dies alles aber mit der größten Selbstverständlichkeit gelingt, ist es vor allem ein musikalischer Hochgenuss.