Mehr als ein Menschenleben lang vergaß die Welt eine ihrer schönsten und ergreifendsten Musiken. Es musste erst ein Wunderkind kommen beziehungsweise ein zwanzig Jahre junger Mann mit außerordentlicher musikalischer Frühreife, um die Menschen auf dieses Werk wieder aufmerksam zu machen. 1829 war das, Felix Mendelssohn hieß der Wunderknabe.
Die 150 Choristen der Sing-Akademie zu Berlin hatte er für die Wiederaufführung von Bachs „Matthäus-Passion“ versammelt, er selbst spielte in Ermangelung einer Orgel auf einem Hammerflügel. Man darf annehmen, dass die um nicht wenige Arien und Choräle gekürzte Fassung zwar weit entfernt von Bachs klanglicher Intention war, und doch landete Mendelssohn einen Wirkungstreffer: Das Werk ging im Jahr darauf in Druck, seither verging bis zum heutigen Tage kein Karfreitag mehr, an dem nicht irgendwo die „Matthäus-Passion“ erklang – im 19. Jahrhundert übrigens noch mit gehörigem sinfonischem Gigantismus, mehrere Hundert Musiker auf der Bühne waren bisweilen Usance.
Geschrei und heilige Aura
1912 wurde die oratorische Passion erstmals vollständig aufgeführt. Mehr als zweieinhalb Stunden dauert sie in der originalen Fassung. Das zehrt freilich an den Kräften aller Beteiligten, der beiden Chöre, der zwei Orchester, der Solisten, der Zuhörer. Aber es ist eben ein religiöser Akt, wenngleich dieser auch oft im Konzertsaal vollzogen wird. Durch die Verdoppelung der Ensembles hat Bach eine Stereofonie geschaffen, die nicht nur klanglichen Reiz hat, denn zusätzlich können die beiden Chöre in einen Dialog miteinander treten.
Die sogenannten Turba-Chöre stellen verschiedene Menschengruppen dar – das Volk, die Jünger, Soldaten oder die Priester. Dementsprechend vielfältig treten sie in Erscheinung: mal in schönster homofoner Eintracht, mal dissonant mit regelrechtem Geschrei („Lass ihn kreuzigen!“), mal betören sie mit höchster polyfoner Kunst, mal fallen sie den Solisten regelrecht ins Wort. Kern der Passion sind die Secco-Rezitative, mit denen die Auszüge aus dem Evangelium vorgetragen werden. Allein der Jesus-Interpret singt nicht secco, wird also nicht nur von einer Continuo-Gruppe begleitet, sondern von einem vierstimmigen Streichersatz, womit Bach den Worten Jesu eine nachgerade heilige Aura verliehen hat. Meist außerhalb der Bibeltexte sind die vierzehn Choräle sowie die fünfzehn Arien in die „Matthäus-Passion“ eingeflochten, die mit ihrer kontemplativen Wirkung ein Innehalten während der Handlung ermöglichen.
Lange Zeit dachte man übrigens, die „Matthäus-Passion“ wäre 1729 erstmals erklungen, exakt hundert Jahre vor der Aufführung durch Felix Mendelssohn. Erst 1975 konnte der große Bachinterpret Joshua Rifkin nachweisen, dass das Werk zwei Jahre zuvor, 1727, in der Leipziger Thomaskirche zur Uraufführung kam.
Die wichtigsten Fakten zu Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“:
Besetzung: Evangelist (Tenor), Jesus (Bass), Zwei Mägde & Frau des Pilatus (Sopran), Zwei Zeugen (Alt & Tenor), Simon Petrus, Judas Ischariot, Hohepriester, zwei Priester & Pilatus (Bass), vier Gesangssolisten (SATB), zwei gemischte Chöre, zwei Flöten/Blockflöten, zwei Oboen/Oboen d’amore, zwei Oboen da caccia, Streichorchester, Continuo
Spieldauer: Ca. 2 ¾ Stunden
Uraufführung: 11. April 1727 in der Leipziger Thomaskirche
Referenzeinspielung:
J. S. Bach: Matthäus-Passion BWV 244
Julian Prégardien (Evangelist), Stéphane Degout (Bass I & Jesus), Sabine Devieilhe (Sopran I & Uxor Pilatus), Hana Blažíková (Sopran II), Lucile Richardot (Alt I), Tim Mead (Alt II & Testis I), Reinoud van Mechelen (Tenor I), Emiliano Gonzalez Toro (Tenor II & Testis II), Christian Immler (Bass II, Pontifex Kaiphas & Pilatus), Maîtrise de Radio France, Pygmalion, Raphaël Pichon (Leitung)
harmonia mundi
2022
Spitzenensemble, Spitzensolisten, Spitzentontechniker: Die Superlative sind gesetzt bei dieser Aufnahme, die 2022 erschien. Hinzu kommt die Pygmalion-/Pichon-typische Lust am Wagnis, die als Ergebnis eine im besten Sinne eigenwillige Interpretation der „Matthäus-Passion“ hervorbringt.