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Porträt Jonathan Nott

Die Kunst der richtigen Frequenzmischungen

Dirigent Jonathan Nott befreit hyperemotionale Musik von Fett und Schmalz, dekodiert für sein Publikum jede noch so sperrige Gegenwartskomposition und behält trotz seiner zahlreichen internationalen Engagements den Nachwuchs im Auge.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Wie wird ein Haus gebaut? Wann fängt man mit dem Dach an? Was ist mit den Wänden? Was mit den Etagen? Trägt die Konstruktion? Das sind die Fragen eines Architekten und Statikers. Aber auch die des britischen Dirigenten Jonathan Nott, wenn er ein Werk angeht. Bei Proben erlebt man ihn als pragmatischen Mann, der mit klaren Gesten und Bildern vermittelt, was er von den Musikern erwartet. Dabei wird hart und akribisch gearbeitet und an jeder melodischen und rhythmischen Phrase gefeilt. Ein Kapellmeister im besten Sinne des Wortes ist Nott also, einer mit Herzblut, analytischem Verstand und Humor. Wenn er lacht, wirkt der 59-Jährige fast schon jungenhaft, was wohl nicht nur an der charmanten Zahnlücke liegt, sondern auch an der Arbeit mit der Jugend als Erster Dirigent der Jungen Deutschen Philharmonie und als langjähriger Jury-Präsident des Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs der Bamberger Symphoniker.

1962 im englischen Solihull geboren, wuchs der Sohn eines evangelischen Pfarrers in Worcester auf, wo er im Knabenchor der Kathedrale seine erste musikalische Ausbildung erhielt. Er setzte sie am Clare College in Cambridge fort und später am National Opera Studio in London. Bald fand er die Opernpartituren viel spannender als den reinen Gesang. 1989 heuerte er als Korrepetitor an der Oper Frankfurt an, 1991 übernahm er die Stelle des Ersten Kapellmeisters am Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Mit der Aufführung von Wagners „Ring“ im Jahr 1996 empfahl er sich für höhere Positionen zunächst als Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters, ab 2000 dann als Chef der Bamberger Symphoniker. Das deutsche Traditionsorchester leitete er sechzehn Jahre lang und ist diesem bis heute verbunden. 2011 zeichnete die Stadt Bamberg ihn mit einem Ehrenring aus, eine Geste, die Nott gewiss gerührt haben muss. Denn der Brite liebt nicht nur die deutsche Kultur und Sprache, er beherrscht sie auch fließend im Gegensatz zu manchem lange in Deutschland lebenden Kollegen.

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Jonathan Nott: Verantwortlich für „Mahlers Seele”

Zwischen 2005 und 2011 nahm Nott mit den Bambergern alle Mahler-Sinfonien auf, hyperemotionale Musik, die den studierten Musikwissenschaftler vor manche Herausforderung stellten. Mit Notizen und Thementabellen suchte er das immense Pensum zu bändigen, las viel, glaubte aber „wenig“ davon. Denn egal „was Alma, Adorno oder Mahler selbst“ schrieben, „es gibt keine einfachen Antworten“, meint er. Immer wieder entdecke man Neues. „Der Prozess endet nie“.  Einerseits fühlte sich Nott „verantwortlich“ für „Mahlers Seele“, nutzte dieser die Musik als Gefäß für seine Zerrissenheit und Sehnsucht. Doch als Interpret sind Nott „eine durchgehende Logik und klare Strukturen“ wichtig. Dazu musste manche Mahler’sche Melodie von „Fett und Schmalz“ befreit werden. Glücklich sei er erst, wenn ihm die Balance zwischen der ernsten Emotion und dem Banalen gelingt, eine Maxime, die er auch bei anderen Werken und anderen Orchestern verfolgt, sei es als Chef des Tokyo Symphony Orchestra oder des Orchestre de la Suisse Romande.

Notts eher nüchterne Sicht rührt wohl auch von seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik her. Von 2000 bis 2003 führte er das von Pierre Boulez in Paris gegründete Ensemble intercontemporain. Viele Werke hat er zur Uraufführung gebracht, darunter Musik von Brian Ferneyhough, Helmut Lachenmann und Aribert Reimann, ferner Auftragskompositionen der Bamberger Symphoniker von Jörg Widmann, Wolfgang Rihm, Bruno Mantovani oder Mark-Anthony Turnage. Mit den Berliner Philharmonikern spielte Nott zahlreiche Orchesterwerke György Ligetis ein. Zeitgenössische Musik müsse nicht sperrig sein, sagt er, man könne das Ohr trainieren, um „andere Frequenzmischungen zu genießen“.

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