Mit Zuschreibungen ist die Musikjournaille oder die -geschichtsschreibung ja immer schnell. Doch wer Profi- wie Hobbychoristen als unangefochtener Hausgott gilt, sollte selbst dem kulturfernsten allgemeingebildeten Schüler etwas sagen: Heinrich Schütz wurde schon zu Lebzeiten als „Urvater der deutschen Musik“ bezeichnet, auch wenn seine Werke danach fast zwei Jahrhunderte lang vergessen schienen. Unbestritten war er der erste Komponist, der auf deutschem Boden Musik schuf, die nicht nur Hof und Klerus nützlich oder gefällig war, sondern für sich selbst stand. Dass Heinrich Schütz sie auch drucken ließ, zeugt von seinem Selbstbewusstsein im besten Sinne des Wortes als eigenständiger Künstler.
Leben im kulturellen Zentrum
Hineingeboren in eine wohlhabende thüringische Familie, wuchs der Köstritzer Gastwirtssohn im damals kursächsischen Weißenfels auf, wo er sich später auch – bis zu seinem Ende im dazumal biblischen Alter von 87 Jahren – seinen Alterswohnsitz einrichtete. Seine Karriere verdankte er einem zufällig durchreisenden Hotelgast seines Vaters: Der hessische Landgraf Moritz holte den Dreizehnjährigen als Kapellknaben an seinen Hof in Kassel und bezahlte ihm einen mehrjährigen Studienaufenthalt beim venezianischen Großmeister Giovanni Gabrieli, bei dem Freund Schütz die italienische Mehrchörigkeit und Madrigaltechnik kennenlernte.
Gabrielis Nachfolger wurde trotzdem ein Italiener: Claudio Monteverdi. Also kehrte der Thüringer nach Hessen zurück, wurde aber dem Landgrafen wenig später vom sächsischen Kurfürsten Johann Georg ausgespannt, was zu ernsthaften diplomatischen Verwicklungen führte. Fortan durfte er sich Hofkapellmeister in Dresden nennen, aber auch erst mit 72 Jahren in Rente gehen, als sein Dienstherr gestorben war und dessen Sohn ein gnädiges Einsehen hatte. Heinrich Schütz lebte also überwiegend im heutigen Mitteldeutschland, einer Gegend, die sich schon damals als kulturelles Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation fühlen durfte.
An Heinrich Schütz kam keiner vorbei
Damit blieb Heinrich Schütz – abgesehen von seinen Aufenthalten in Venedig und seinen Fremdengagements am dänischen Hof – einer unfriedlichen Gegend treu. Ein großer Teil seiner Lebenszeit wurde von bewaffneten Konflikten im eigenen Land geprägt. So erlebte Schütz den gesamten Dreißigjährigen Krieg hautnah als Zeit von Existenzangst, kulturellem Niedergang seiner eigenen Hofkapelle und unmittelbarer Grausamkeit. Mehrere ergreifende Klagen sind in seinen Briefen, Vorworten und Kompositionen überliefert. Viele seiner Werke – allen voran die Psalmen Davids oder die Geistliche Chormusik 1648 – spiegeln die ureigenen Erfahrungen in unmittelbarer Nachbarschaft von Seuchen, Tod und nicht selten fürchterlichen Gräueltaten wider. In einer qualvollen Zeit war es aber vor allem Schütz, der trotz seiner Erlebnisse mit seiner Musik Hoffnung zu vermitteln vermochte.
Das ist umso erstaunlicher, als dass der trotz aller Berühmtheit immer abhängige Angestellte fast alle Familienangehörigen überlebte und vor 350 Jahren ziemlich vereinsamt starb. Gleichwohl verewigte er sich im deutschen kulturellen Gedächtnis mit einer Musik, die zwar die italienischen Errungenschaften des „konzertierenden Stils“ zitierte, aber einen ganz eigenen Weg der Textausdeutung fand und zugleich einen melodischen und harmonischen Stil entwickelte, der die barocken Nachfolger über Jahrzehnte hinaus prägen sollte. An Heinrich Schütz kam keiner vorbei. Und so blieb es – bis heute.