Kurze, energisch-virtuose Triller, eine kurze lyrische Melodie als Kontrast, ein kurzer filigraner Lauf, eine Wendung ins Melancholische. Rund eine Minute und fünfzig Sekunden dauert diese Aufnahme der „Sonata in G“ von Giovanni Battista Pergolesi. Am Klavier: Daniel Barenboim im Alter von dreizehn Jahren. Es ist seine erste Aufnahme, und niemand hätte damals sicher voraussagen können, welche Weltkarriere folgen würde.
Als Sohn zweier Klavierpädagogen jüdisch-ukrainischer Herkunft in Buenos Aires geboren, gibt Barenboim, auf Empfehlung des Geigers Adolf Busch, mit nicht einmal acht Jahren sein erstes öffentliches Konzert. 1951 reist die Familie nach Europa und anschließend weiter ins neu gegründete Israel. In Wilhelm Furtwängler findet Barenboim von früh an einen gewichtigen prominenten Fürsprecher. Nach einem ersten Kennenlernen 1954 setzt der berühmte Dirigent eine Art Empfehlungsschreiben auf: „Der elfjährige Barenboim ist ein Phänomen…“ Mit zwölf Jahren ist der Belobigte bereits Mitglied im Salzburger Dirigierkurs von Igor Markevitch. Später zählen Claudio Abbado und Zubin Mehta zu seinen Mitstudenten bei Dirigierkursen in Italien.
Den Miniaturen seiner ersten Aufnahme von 1955 ist Barenboim schnell entwachsen. 1958 veröffentlicht er erstmals ein Album mit Beethoven-Sonaten: „Waldstein“ und op. 111, zwei kompositorische Schwergewichte, eingespielt von einem Jugendlichen. Ein Jahr später kommt bereits seine Sicht der „Hammerklavier“-Sonate in den Handel.
Beethovens Klaviersonaten hat Daniel Barenboim mehrmals komplett eingespielt
Beethovens Sonaten werden ein Markstein in der Karriere des Pianisten Daniel Barenboim. Mehrfach hat er den Zyklus mit allen 32 Werken aufgenommen. Zuletzt 2020, nachdem sich Barenboim – pandemiebedingt – drei Monate ausschließlich mit dem Klavierspiel beschäftigt hat. Die letzte ist allerdings seine schwächste Aufnahme. Offenbar misstraut Barenboim Beethovens Trennschärfe bei Akzenten und Akkorden mehr als früher. Wo Beethoven bei Übergängen oder in Einleitungen einen kantigen, spitzen, aufrüttelnden Charakter erzeugen und damit Spannung aufbauen möchte, formt Barenboim daraus etwas Flächiges, sanft Ineinandergleitendes. Es wäre zu einfach, diese Einspielung mit so unterschiedlichen Prädikaten wie „Altersstil“ oder „romantisch“ abzustempeln. Denn Barenboim war nie ein Künstler, der seine Entscheidungen nur aus dem Bauch heraus getroffen hat. Seine Aufnahme aus den späten sechziger Jahren jedoch ist ungleich aufschlussreicher, aufrüttelnder, mutiger. Mag der Zyklus Mitte der achtziger Jahre insgesamt runder erscheinen, so zeigt der junge Barenboim eine größere artikulatorische Schärfe, die sich paart mit einer ganz speziellen Gabe, die er sich lange bewahrt hat: Wie wunderbar kann sein Anschlag perlen! Das schlägt sich vor allem in seinen Mozart-Aufnahmen nieder: in seiner späten Einspielung der Klaviertrios an der Seite seines Sohnes Michael und Kian Soltani am Cello; in den Gesamtaufnahmen mit Klavierkonzerten, die Barenboim als Pianisten und gleichzeitigen Dirigenten mit dem English Chamber Orchestra und später mit den Berliner Philharmonikern zeigen; in den Violinsonaten mit Itzhak Perlman und natürlich im Zyklus der Sonaten, ebenfalls Mitte der achtziger Jahre entstanden.
Daniel Barenboims Diskografie – ein Stammbaum durch die Musikgeschichte
Schon 1960 wird Barenboim von der Presse als „reichstes Talent der Nachkriegsgeneration“ gefeiert. Früh durfte er dem beeindruckten Artur Rubinstein vorspielen. Kleine Nebenwirkung: „Es war das erste Mal, dass ich Wodka trank, und er gab mir meine erste Zigarre.“ 1967 bittet Rubinstein den neuen Freund, ein Konzert mit dem Israel Philharmonic Orchestra zu leiten – für den als Dirigent noch unbekannten Barenboim ein starker Vertrauensbeweis. Im März 1975 konzertieren sie mit dem vierten und fünften Klavierkonzert von Beethoven, einen Tag später folgt die Produktion im Aufnahmestudio. Rubinstein gefällt die Zusammenarbeit. Nur einen Tag darauf nehmen sie bereits das dritte Konzert auf. Die ersten beiden Konzerte stehen nicht auf dem Plan, denn Rubinstein hatte sie lange nicht mehr gespielt. Doch von der Zusammenarbeit begeistert, komplettiert er in nur wenigen Wochen den Zyklus – es ist Rubinsteins dritter mit allen fünf Konzerten. Er ist mittlerweile weit über achtzig Jahre alt, Barenboim gerade einmal 32. Natürlich hat Barenboim die fünf Werke weitere Male aufgenommen, darunter als Pianist in der beredten Einspielung unter Otto Klemperer und mit dem von ihm gegründeten West-Eastern Divan Orchestra, mit dem er ebenso alle neun Sinfonien dokumentiert hat.
Die Diskografie des Daniel Barenboim ist ein riesiger Stammbaum durch die Musikgeschichte. Vergleichsweise spärlich mögen seine Ausflüge zu Johannes Brahms und Johann Sebastian Bach wirken – unter anderem mit einem überraschend versonnen-milchigen „Wohltemperierten Klavier“. Als Solist hat Barenboim das weite Feld von Klassik und Romantik fast flächendeckend erschlossen, Schuberts Sonaten dabei erst relativ spät. Als Kammermusiker ist er unter anderem in Produktionen an der Seite seiner damaligen Frau, der Cellistin Jacqueline du Pré, zu hören – mit fulminanten Beethoven-Trios und in einer prächtigen Produktion der Brahms-Sonaten. Immer wieder zu erleben ist Barenboim auch im Duo, bei Violinsonaten oder vierhändig, etwa live an der Seite von Martha Argerich.
Nicht unerwähnt bleiben darf der Lied-Pianist, insbesondere an der Seite von Dietrich Fischer-Dieskau. Mag man über ein Mozart-Album oder eine gemeinsame „Winterreise“ streiten können – die zyklischen Projekte zu Johannes Brahms und Hugo Wolf sollten nicht nur von enzyklopädisch veranlagten Sammlern zur Kenntnis genommen werden. Ähnlich üppig liest sich Barenboims Katalog bei Orchesteraufnahmen: die großen Sinfonien von Mozart, mehrere Beethoven-Zyklen, Bruckner-Gesamtaufnahmen aus Chicago und mit den beiden Berliner Orchestern, Brahms und Schumann (zweimal) mit der Staatskapelle. Gerade bei Schumann schlägt eine furtwänglerisierende Tradition durch, mit warmer Klanggebung, viel Binnen-Spannung und Tempo-Reduktionen. Gustav Mahler? Überraschende Zurückhaltung. Wie bei Brahms erfolgt der Zugang am ehesten über die Lieder. Ansonsten nur drei von neun Sinfonien, mit drei verschiedenen Orchestern. Kein Zyklus. Das will etwas sagen.
Musikdokumente von großer Spannweite
Zuletzt der Opern-Dirigent Barenboim. Ihn erlebte man vor allem live und in echt, weshalb er an dieser Stelle zu kurz kommt. Ob für seine Mozart- oder Wagner-Projekte – ihm ist es immer gelungen, bedeutende Sängerinnen und Sänger zu gewinnen, die er vom Star-Sockel heruntergeholt hat, um sie zu Ensembles aus Gleichberechtigten zu formen. Markant auch hier eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Giuseppe Verdi, dessen letzte beiden Bühnen-Werke er nur auf DVD veröffentlicht hat.
Daniel Barenboims Aufnahmetätigkeit fällt zusammen mit der Hoch-Zeit von Langspielplatte und CD. Er, der große Enzyklopädist, hat Dokumente von großer Spannweite veröffentlicht: Einige machen ratlos, mit anderen hat er Marksteine gesetzt – ein reiches Musikerleben festgehalten in Umfängen, die sonst kaum jemandem vergönnt waren, wohl auch dank seiner Doppel-Begabung als Dirigent und Pianist.