Dass Christian Gerhaher einer der bedeutendsten Liedinterpreten unserer Zeit ist, dürfte allgemein bekannt sein. Dass er ein Sänger ist, der sein Tun auf höchstem intellektuellen Niveau hinterfragt und analysiert, weiß, wer das Glück hatte, mit ihm Gespräche über das Lied führen zu dürfen. Und alle anderen Lied-Liebhaber können sich davon nun ebenfalls überzeugen, indem sie Gerhahers Buch „Lyrisches Tagebuch – Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm“ lesen. Es handelt sich um assoziative, mitunter schon ins Philosophische tendierende Gedanken, die sich der Ausnahmesänger in den über dreißig Jahren seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Liedschaffen von Ludwig van Beethoven, Franz Schubert als dem „Urvater“ der Gattung, Robert Schumann, dessen vielfältigem Werk besonders viel Raum eingeräumt wird, Gustav Mahler über Othmar Schoeck bis hin zu Wolfgang Rihm und Heinz Holligers Liederzyklus und späterer Oper „Lunea“ gemacht hat – einen Seitenblick auf Mozarts „Don Giovanni“ eingeschlossen.
Ein Leser, der seinerseits mit dieser Literatur nicht vertraut ist, dürfte gewisse Verständnisprobleme haben, denn Gerhaher setzt vieles voraus. Wer das Lied hingegen kennt und liebt, wird dieses Buch mit ebenso viel Genuss wie Gewinn lesen können. Aus der Natur der Sache ergibt sich, dass nicht nur die Musik, sondern auch der zugrundeliegende Text beleuchtet wird. Und dass Gerhaher dies nicht in der Art eines Musik- oder Literaturwissenschaftlers angeht, sondern von völlig individuellen Erlebnissen und Erfahrungen ausgeht, macht das Buch so besonders. Der Leser gewinnt einen neuen Blick auf die geliebten Werke, der das Hörerlebnis bereichern wird. Und lernt vielleicht selteneres Repertoire wie Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ sogar neu kennen.