Ein Amoklauf an einer internationalen Schule. Es gibt Tote. Der Täter wird gefasst und in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Die ganze Welt ist schockiert, die Menschen sind entsetzt, können nicht fassen, was dort Grausames geschehen ist. Der Medienrummel ist groß. Journalisten berichten, Politiker diskutieren, es gibt Gedenkveranstaltungen. Und dann? Dann ist der erste große Schock bald überwunden, das Thema ausgeschlachtet, das öffentliche Interesse lässt nach und das Leben geht weiter. Doch was ist mit jenen, die dabei waren? Was ist mit den Opfern und ihren Familien? Was ist mit dem Täter und dessen Angehörigen? Wie kann für sie das Leben weitergehen? Diesen Fragen widmet sich Kaija Saariaho in ihrer fünfaktigen, 2021 uraufgeführten Oper „Innocence“. Anhand eines fiktiven, aber erschreckend realitätsnahen Amok-Szenarios wirft die finnische Komponistin einen klingenden Blick auf das Danach, auf das Verdrängen und Vergessen.
André Sperber