Der Kulturwissenschaftler, Lektor und Biobauer recherchiert als studierter Psychologe mit scharfsichtiger Weitwinkel-Ambition: Nach „Die Mozarts“ und die „Die Grimms“ folgen von Michael Lemster jetzt „Strauss“. Mit „ss“ statt der eingebürgerten Schreibweise mit „ß“ für die Walzerdynastie aus Wien. Wie mit einer Kamera fährt Lemster aus dem meteorologischen Ausnahmefall eines kalten Frühlings wegen Vulkanausbruchs in Sumatra zur Leiche eines Strauss in der Donau. Lemster beginnt mit Hinweis auf den riesigen Musikmarkt „der strahlenden Metropole eines Weltreichs im Schwundzustand“, macht die drastischen Härten des Lebens durch Musik deutlich und schildert, wie die Klassifizierung von Jean Strauss Sohn als „Achtel-Jude“ im Nationalsozialismus zur „geheimen Reichssache“ erklärt wurde.
Da bröckelt der Klangputz von Walzern und Operetten
Der Autor setzt klare Schnitte und legitimiert sich als passionierter Erzähler. Denn Akten sind zwar die verlässlichste Quelle, aber das Wesentliche ist in ihnen unsichtbar und muss erschlossen werden. Lemster beklagt die Härte der Strauss’ im Umgang untereinander, und er holt aus zu einem sozial-, sitten- und kulturgeschichtlichen Rundumschlag. Das erzeugt eine riesige, soghafte Leselust. Und im geistigen Ohr bröckelt der Hochglanz-Klangputz von den Walzern und Operettenzaubereien. Nach der Lektüre hört man die Musik der Strauss’ deutlicher, und man bemerkt auch den grauen Schmutzsaum an den Tournüren der Tänzerinnen. Ein Buch von schöner Hässlichkeit, das mit Hypothesen und Fantasie die innere Wahrheit sucht.
Strauss. Eine Wiener Familie revolutioniert die Musikwelt
Michael Lemster
Benevento, 496 Seiten
28 Euro