Marc Sinan, Sie haben als Komponist Werke über historische Themen und mit politischer Botschaft komponiert, auch über den Genozid an den Armeniern 1915 im Osmanischen Reich. Nun haben Sie Ihren ersten Roman vorgelegt. Darin verbinden Sie die Geschichte Ihrer armenischen Großmutter in der Türkei, historische Fakten, Autobiografisches und Fiktionales bildgewaltig zu einer fesselnden Geschichte. Hat Ihnen die Musik nicht mehr ausgereicht, um das Thema zu behandeln?
Marc Sinan: Es ist nicht so, dass die Musik nicht ausreichen würde, es sind andere Mittel. Damit wird ein anderes Licht auf die Sache geworfen. Es ist für mich ein neuer Zugang und als Autor auch die Lust am anderen Medium.
Wie haben Sie die Hintergründe über die Familiengeschichte Ihrer armenischen Großmutter entdeckt?
Sinan: Das ist ein gewachsenes Wissen, das sich aus vielen Fragmenten zusammensetzt, Informationen, die ich über die Jahre erfahren habe von meiner Mutter, meinen Verwandten, von Freunden meiner Großeltern. Außerdem habe ich mich 2013 bis 2016 intensiv mit dem Genozid an den Armeniern in der Türkei für musikalische Werke beschäftigt und viel dazu recherchiert. Zum Beispiel für mein dokufiktionales Musiktheaterstück „Komitas“ über den armenischen Priester und Komponisten Komitas Vardapet, der 1915 deportiert wurde. Und während der Zusammenarbeit mit Helmut Oehring für sein Stück „Massaker, hört ihr MASSAKER!“ für Sologitarre/Stimme und Orchester, das er für mich komponiert hat. Darin werden Verse des armenischen Dichters Rupen Sevag als Klage an den heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gerichtet. Rupen Sevag gehörte 1915 zu den ersten Opfern des Genozids.
2021 wurde Ihr Oratorium, das denselben Titel wie der Roman trägt, in Berlin uraufgeführt. Welche Bezüge gibt es?
Sinan: Mein Oratorium „Gleißendes Licht“ ist eine Betrachtung von Täter- und Opferschaft im Kontext der Shoa. Meine deutsche Familie, die Familie meines Vaters, hat eine Täterbiografie: Mein Großvater war überzeugter Sozialdemokrat und hat in der NS-Zeit mit einem Freund eine jüdische Familie versteckt. Die Schwester meines Vaters dagegen war eine glühende Nationalsozialistin. Es kam zum endgültigen Bruch, als sie meinem Großvater drohte, ihn zu verraten, wenn er sie nicht in den BDM eintreten lasse. Das hat meinen Vater sehr beschäftigt, er hat darüber oft gesprochen. Die Shoa war seit meiner Jugend deshalb sehr präsent für mich. Die Opfergeschichte meiner Familie mütterlicherseits im Zusammenhang mit dem Genozid wurde mir erst später klar.
Wieso wählten Sie den gleichen Titel für zwei Werke, die verschiedene historische Komplexe behandeln?
Sinan: In beiden Werken geht es um die Mechanismen, die Täter und Opfer aneinander binden und auch um die Gefühle, die Opfer gegenüber ihren Tätern haben. Um Fragen der Schuld, Rache und Vergebung. Das Oratorium betrachtet die historischen Zusammenhänge auf einer Makroebene, der Roman erzählt von Täter- und Opferschaft im Persönlichen.
Ihr Roman enthält fantastische Episoden und Traumsequenzen, er ist aber auch stark autobiografisch geprägt: Der Protagonist Kaan ist ein in Bayern geborener, heute in Berlin lebender Gitarrist und Komponist – wie Sie. Sowohl die Mutter Nur als auch die Großeltern Vahide und Hüseyn haben die realen Namen Ihrer Familienangehörigen. Keine Bedenken, zu viel Persönliches preiszugeben?
Sinan: Auch in der Musik mache ich mich angreifbar, das ist nur etwas schwerer zu dechiffrieren. Was mich in beiden Fällen interessiert, ist die Dichte der Motive aus Autobiografischem und Fiktionalem. Aufgrund dieser hohen Verdichtung setzt sich der Leser eine eigene Erzählung zusammen. Das führt zu einer Aktivierung und damit einer Emanzipation des Rezipienten. Dies kann eine Zumutung sein, aber auch ein großes Geschenk. Hoffe ich zumindest.
Haben Sie eigentlich schon Unterlassungsklagen erreicht? Im Roman stehen sehr persönliche Details über die Ex-Partnerin von Kaan. Und über seinen Onkel Ferhat gibt es die Andeutung, dass er schwul sei, es sich nur nicht eingestehe …
Sinan: Die Figur der Ex-Partnerin von Kaan, Susanne „Zizi“, ist fiktiv. Genau wie Onkel Ferhat. Wenn es ihn gäbe, würde er wahrscheinlich gutheißen, was er lesen würde.
Können Sie überhaupt noch in die Türkei reisen? Schließlich gibt es in ihrem Roman eine phantasmagorische Vision eines Anschlags auf den heutigen türkischen Präsidenten …
Sinan: Manche Leute raten mir davon ab. Wissen Sie, ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der man sich geschworen hat, niemals Mitläufer zu sein. Und da soll ich jetzt vor der Unmöglichkeit eines Urlaubs in der Türkei Angst haben?
Gleißendes Licht
Marc Sinan
Rowohlt, 268 Seiten
24 Euro