Wie es gewesen sein könnte – diesen erzählerischen Kniff der Geschichtsschreibung, der seit einigen Jahren in Mode ist, wendet auch Rüdiger Görner in seiner Bruckner-Biografie an. Der emeritierte Professor für Neuere Deutsche Literatur verwebt dieses Stilmittel mit Tatsachenbeschreibungen. Görner stellt sehr viele Fragen, enthält den Lesern aber die Antworten vor. Als es beispielsweise um Bruckners Kindheit geht, heißt es: „Was nahm er wahr, der kleine Anton Bruckner? … Gab es familiäre Sonntagsspaziergänge zu Ostern? … War es diese Form barocker Erhabenheit, die sich in diesen empfänglichen Jungen eingesenkt hatte?“ Derlei Passagen ermuntern den Leser, sich seine eigene Vorstellung von Bruckners Welt zu machen, und es macht auch Spaß, diese Fragen als kleine (Nach-)Denkspiele zu betrachten.
Biografisch nebulös
Auch die Einladungen, sich Lebensepisoden plastisch vorzustellen, sind ein reizvoller Zugang zur Lebenswelt Bruckners. Doch muss man in Kauf nehmen, dass dadurch die Grenzen zwischen Fakten und Vermutung verwischen, zumal auch kritische Leser sicherlich nur ungern Fachliteratur bemühen möchten, um herauszufinden, was der Fantasie entsprungen ist und was sich durch Briefe oder andere Zeugnisse belegen lässt. Das Quellenverzeichnis am Ende des Buches bringt da nicht allzu viel Licht ins Dunkel. Seinen besonderen Reiz entfaltet die weitestgehend chronologisch erzählte Biografie, wenn man sie als Kontrapunkt zu anderen, den reinen Fakten verpflichteten Bruckner-Schriften betrachtet.
Bruckner. Der Anarch der Musik
Rüdiger Görner
Zsolnay, 384 Seiten
32 Euro