Startseite » Reportage » Zwischen Annäherung und Abstand

Mehr Publikum in Zeiten von Corona

Zwischen Annäherung und Abstand

Wie Veranstalter mit kreativen Lösungen wieder mehr Publikum in die Konzertsäle bringen wollen und warum man sich auf diese Saison besonders freuen sollte.

vonJulia Hellmig,

Endlich kommt wieder zusammen, was zusammengehört: Künstler und Publikum von Angesicht zu Angesicht. Zwar waren die letzten Monate keine musikfreie Zeit, denn coronataugliche Kammermusikkonzerte boomten und originelle Konzertformate, wie etwa die „1:1 Concerts“, führten zu außergewöhnlichen Hörerlebnissen, die noch lange nachhallen werden. Doch jetzt wird es wieder Zeit für den großen Orchesterklang.

Lag der Fokus zunächst darauf, wie Hygienekonzepte auf der Bühne umgesetzt werden können, verlagert sich das Augenmerk nun immer mehr ins Parkett. Von den Veranstaltern ist Kreativität und Flexibilität gefragt, von den Zuhörern vor allem Geduld und der unbedingte Wille, ihren Hunger nach Konzerten aufrecht zu erhalten.

Pappkameraden, Schutzsegel und Vernebelungstechnik

Ein nicht einmal halb voller Saal kann für Veranstalter, Musiker wie Zuhörer gleichermaßen unbefriedigend sein. Um dem Gefühl der Leere entgegenzuwirken, hat das Musiktheater im Revier deshalb folgenden Aufruf gestartet: „Jetzt noch schnell Pappkamerad werden!“ Während der Spielzeitpause haben die Gelsenkirchener etliche Fotos von ihrem Publikum geschickt bekommen, die als lebensgroße Pappaufsteller die coronabedingten freien Plätze füllen sollen.

Mit einer Auslastung von gerade einmal 30 Prozent oder weniger schrumpfen auch die Einnahmequellen der Konzertveranstalter drastisch. Deswegen werden im oberschwäbischen Weingarten aktuell Schutzsegel eingesetzt. Die Raumtrenner bestehen aus einer transparenten Kunststofffolie und werden je nach gebuchten Sitzplätzen an den Stuhllehnen befestigt. Die Zuhörer sind nun physisch voreinander geschützt und gleichzeitig fällt die Abstandsregel von 1,50 Metern weg. Unter dieser Bedingung dürfen sogar Gruppen nebeneinander sitzen, wie etwa im Restaurant, und die Saalkapazität steigt um bis zu 40 Prozent. Akustische Einschränkungen gibt es wegen der elastischen Folie keine, da der Schall, im Vergleich zu einer starren Plexiglaswand, nicht direkt an das Ohr zurückgeworfen wird und so keine Klangüberlagerungen entstehen.

Die Schutzsegel der Firma rosconi sorgen für den nötigen Abstand im Konzertsaal
Die Schutzsegel der Firma rosconi sorgen für den nötigen Abstand im Konzertsaal

Äußerst vielversprechend klingt, was vor einigen Wochen in Augsburg und Berlin getestet wurde: Potentielle Coronaviren in der Saalluft lassen sich möglicherweise durch ein natürlich abbaubares Desinfektionsmittel beseitigen. Diese Vernebelungstechnik wurde ursprünglich für Krankenhäuser entwickelt und soll laut Berliner Ensemble 99 Prozent der Viren und Bakterien im Raum entfernen.

Nie zuvor war ein Konzert- oder Opernbesuch so hygienisch

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sind zwar umfangreich, jedoch umsetzbar. Die wichtigsten Punkte für Besucher sind: Hände desinfizieren, Abstand halten und Maske tragen, solange man seinen Sitzplatz nicht eingenommen hat. Selbst zunächst einmal unerfreuliche Meldungen wie spontane Programmänderungen können zu neuen Eindrücken und vor allem viel Gesprächsstoff nach dem Konzert führen. Flexibilität und Geduld sind hier die Stichworte. Auf die Veranstalter und Musiker warten fast wöchentlich neue Verordnungen, die sie für ihr Publikum jedes Mal bestmöglich umsetzen.

Der Blick nach Österreich zeigt, dass die Salzburger Festspiele jüngst weder Kosten noch Mühen gescheut haben, um ihren 1.000 Besuchern eine voll besetzte „Così fan tutte“ zu präsentieren. Auch in der Schweiz herrschen ähnliche Bedingungen. Ins 1.200 Plätze umfassende Opernhaus Zürich dürfen 900 Besucher, das Theater Bern ist mit 700 erlaubten Personen voll besetzt. Das renovierte Stadtcasino in Basel war bei der Wiedereröffnung dicht gefüllt. Allerdings bestand während des gesamten Konzerts eine generelle Maskenpflicht, was aber doch nur ein vergleichsweise kleines Opfer für den großen Musikgenuss ist.

Für deutsche Konzertbesucher ist in den kommenden Monaten möglicherweise „Kultur Hopping“ angesagt, auch innerhalb des Landes dank föderalem System. So sind in Bayern momentan nur maximal 200 Besucher in einem geschlossenen Raum erlaubt. Davon ausgenommen ist die Bayerische Staatsoper, wo sich versuchsweise bis zu 500 Besucher dem Kunstgenuss hingeben dürfen. In Nordrhein-Westfalen dürfen inzwischen wieder bis zu 1.000 Zuhörer zusammenkommen.

Thomas Hengelbrock geht mutig und mit gutem Beispiel voran
Thomas Hengelbrock geht mutig und mit gutem Beispiel voran

Sogleich ist das Konzerthaus Dortmund mutig vorangeschritten und hat Anfang September 90 Musiker und Chorsänger unter der Leitung von Thomas Hengelbrock versammelt, um Haydns „Schöpfung“ aufzuführen. Alles unter strengen Hygienevorschriften, mit regelmäßigen Tests der Musiker und einem kompletten Luftaustausch im Saal alle 20 Minuten durch ein leistungsstarkes Belüftungssystem. Nie zuvor war ein Konzert- oder Opernbesuch so hygienisch.

Wer sich bei dem limitierten Platzangebot eine Konzertkarte sichern kann, darf sich jetzt mehr denn je freuen

Das sind allerdings nur kleine Schritte in die richtige Richtung. Es gibt viele Häuser, die selbst unter den strengsten Hygienekonzepten mehr Publikum unterbringen könnten. Ausschlaggebend sollten die jeweiligen Gegebenheiten sein und nicht eine pauschale Obergrenze. Besonders schwer trifft es die kleinen Bühnen, die von 100 Sitzplätzen nur 25 besetzen dürfen.

Umso mehr sind jetzt alle öffentlich-rechtlich organisierten Veranstalter in der Pflicht, ihrem kulturpolitischen Auftrag gerecht zu werden und den schwierigen Spagat zwischen Sicherheit und Vergnügen zu wagen. Das Publikum lohnt all diese Anstrengungen hoffentlich reichlich, denn wer sich bei dem limitierten Platzangebot eine Konzertkarte sichern kann, darf sich jetzt mehr denn je freuen.

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!