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Reportage: Klassik auf Tiktok

Hunde, die Arien heulen

Wie klassische Musik auf der Video-Plattform Tiktok funktioniert.

vonJakob Buhre,

Ein junges Publikum anzusprechen, galt unter Klassik-Akteuren lange Zeit als schwierige Disziplin. Doch mit zunehmender Digitalisierung sind in den letzten zwei Jahrzehnten hilfreiche Werkzeuge und Präsentationsflächen entstanden: Musiker führen jetzt öffentlich Tagebuch auf Facebook oder Instagram, geben Youtube-Konzerte und buhlen inzwischen immer mehr auch bei Tiktok um Aufmerksamkeit.

Die bei Jugendlichen äußerst beliebte Plattform wirkt auf den ersten Blick wie ein weiteres Video-Portal, mit einer unüberschaubaren Menge von Clips. Die sind extrem kurz, selten länger als eine Minute, in den allermeisten läuft Musik. Denn ursprünglich, als das Portal 2014 unter dem Namen „Musical.ly“ ans Netz ging, hatte es im Kern eine Funktion: Teenager ließen zu ausgewählten Musikschnipseln die Handykamera laufen, sangen oder tanzten dabei und luden das Ergebnis auf die Plattform hoch. Allein mit diesem Prinzip brachte man es in nur drei Jahren auf 200 Millionen Nutzer weltweit.

Mit lustigen Geigen-Sketchen und viel guter Laune bringt Esther Abrami ihren Followern auf TikTok klassische Musik näher
Mit lustigen Geigen-Sketchen und viel guter Laune bringt Esther Abrami ihren Followern auf TikTok klassische Musik näher

Lang Lang im Bademantel

Seit 2017 wird der Online-Dienst von der chinesischen Firma Bytedance betrieben, hat über eine Milliarde Nutzer, und die bewegen bei Tiktok längst nicht mehr nur synchron die Lippen, sondern leuchten nahezu jede erdenkliche Ecke ihres Alltags aus, mal profan, aber auch sehr häufig pointiert. Für den Betrachter ergibt sich so ein nie endendes Potpourri aus einfallsreichen Blödeleien, gelungenen und misslungenen Kunststücken, Laientheater und Prominenten-Interna. So zeigt sich etwa Lang Lang beim Friseur im Bademantel, im Proberaum oder beim Restaurantbesuch, womit der Pianist Anfang 2022 rund 60.000 Follower erreicht.

Eine Zahl, über die Esther Abrami nur müde lächeln kann. Der französischen Geigerin, deren Name in der analogen Welt bislang wenig bekannt war, folgen auf Tiktok über 350.000 Menschen. 2019 begann sie als Studentin ihre ersten Videos zu veröffentlichen: „Während des Studiums fühlt man sich oft allein: Du übst viel, spielst hauptsächlich für dich und nur selten vor Publikum. Also habe ich mich entschlossen, im Netz andere Menschen an meinem Studienalltag teilhaben zu lassen“, erzählt Abrami. „Mich hat überrascht, wie unmittelbar ich darauf Rückmeldungen bekam, die meisten davon sehr positiv und unterstützend.“ Ihre Fangemeinde wuchs schnell, auch weil Abrami sich humorvoll präsentiert, vor der Kamera kleine Geigen-Sketche aufführt, die Nutzer an ihrer Kostümwahl beteiligt, in wenigen Sekunden Eigenheiten des Klassikbetriebs auf den Punkt bringt oder aufs Korn nimmt.

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Tiktok als Karriere-Booster

Ihr virtuelles Engagement hat sich für die 25-Jährige bereits bezahlt gemacht: Orchester laden sie als Expertin für Social Media ein, Firmen engagieren sie als Markenbotschafterin, und auch einen Plattenvertrag hat sie bereits unterschrieben: Sony Music veröffentlicht Ende März Abramis Debütalbum. Einige Ausschnitte daraus hat sie bereits auf Tiktok platziert, freilich nicht ohne die Bitte an ihre Fans, ihre Musik neu zu bebildern. Dass und wie dies dann tatsächlich geschieht, ist mit das Faszinierendste an Tiktok: Zu Hunderten reagieren Nutzer mit Videos, in denen sie ein von Abrami gespieltes „Schwanensee“-Arrangement zum Soundtrack ihres Alltags machen, sei es als Untermalung eines Waldspaziergangs oder als Vertonung von Neujahrs-Feuerwerk. In Extremform erlebte diesen Multiplikationseffekt der Wiener Komponist Danilo Stankovic, dessen Klavierstück „Pieces“ 2021 viral ging. Ursprünglich war es nur in einem Imagefilm zu hören, doch als Tiktok-Nutzer auf „Pieces“ aufmerksam wurden, landete die Komposition in kurzer Zeit in Tausenden von Videos und wurde so über zwanzig Milliarden Mal gestreamt.

Eine Rossini-Arie im Hip-Hop-Rhythmus hat Babatunde Akinboboye über Nacht berühmt gemacht
Eine Rossini-Arie im Hip-Hop-Rhythmus hat Babatunde Akinboboye über Nacht berühmt gemacht

Auch Babatunde Akinboboye hat solch einen sprunghaften Popularitätsschub schon erlebt. Als sich der US-Bariton 2018 im Auto filmte, wie er zu einem Hip-Hop-Rhythmus eine Rossini-Arie schmetterte, wurde er über Nacht zur Netz-Berühmtheit. Auf Tiktok schaut ihm jetzt mehr als eine halbe Million Nutzer zu, wenn er Stimmübungen macht, über afroamerikanische Musiker referiert oder frech das Jaulen eines Hundes mit dem Gesang der „Königin der Nacht“ zusammenschneidet. Häufig antwortet er auch über die „Duett“-Funktion von Tiktok auf Videos anderer Nutzer, etwa indem er sie in Opernsänger-Pose kommentiert.

Mit Klassik in Berührung kommen

„Das Publikum auf Tiktok schätzt guten Gesang – aber nur für drei Sekunden. Danach braucht es etwas anderes, womit du die Leute beeindruckst“, erklärt Akinboboye. Das Portal sei für ihn so etwas wie ein Skizzenbuch, in dem er sich ausprobiere und wo man Fehler durchaus zulassen könne: „Auf der Bühne streben wir Sänger ja nach Perfektion, bei Tiktok dagegen geht es nicht darum, etwas komplett makellos abzuliefern. Das Ergebnis wird so in den allermeisten Fällen viel interessanter als wenn ich ständig nur versuchen würde, perfekt und fehlerfrei zu sein.“ Er sehe bei seinen Netz-Aktivitäten auch das Potential, mit gewissen Vorurteilen gegenüber der Hochkultur aufzuräumen, sagt Akinboboye: „Ich kann in meinen Videos spaßig sein, kann zeigen, was mich aufregt oder fasziniert. Und wenn die jungen Leute sehen, dass ein Opernsänger im Alltag auch nur ein ganz normaler Typ ist, beseitigt es vielleicht dieses Klischee, Oper sei nur etwas für die Elite.“ Immer häufiger würden ihn Fans fragen, wo er als nächstes auftritt. „Oft schicken mir Leute auch Fotos von ihrem allerersten Opernbesuch.“

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Im Auftrag der Los Angeles Opera hat Akinboboye im Herbst 2021 eine Zusammenfassung von Verdis „Troubadour“ erstellt, Tiktok-gerecht in sechzig Sekunden. Opernliebhaber würden angesichts dieser Komprimierung vermutlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Doch die Hoffnung scheint berechtigt, dass solch ein Video für irgendeinen Nutzer da draußen ein Einstieg sein kann in eine Welt, die er ansonsten vielleicht nie betreten hätte.

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