Über 200 Jahre nach seiner Geburt wissen heute nur wenige von der Existenz des jüdischen Komponisten Louis Lewandowski (1821–1894). Seine geistlichen Melodien aber gingen mit der jüdischen Diaspora um die Welt. So auch nach Argentinien zu Isidoro Abramowicz, dem heutigen Kantor der Synagoge in der Berliner Pestalozzi-Straße. In der Libertad-Synagoge von Buenos Aires, in der man sich bei Sonnenuntergang am Freitag zum Schabbat traf, wurde Lewandowskis Musik oft gespielt. „Mein Großvater war Bäcker und belieferte ganz Südamerika mit Matze“, erzählt Abramowicz. Im Ohr aber behielt er die „warme Stimme des Kantors“, und so beschloss er, Musik in Deutschland zu studieren.
Er heuerte als Chorleiter in Oldenburg an. Da er Hebräisch konnte und die Gebete kannte, übernahm er dort die Rolle des Chasan, also des Kantors bzw. Vorbeters. Am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam, der akademischen Ausbildungsstätte für jüdische Geistliche, setzte er seine Ausbildung fort und schloss mit einer Masterarbeit über die orthodoxe Frankfurter Tradition des Kaddisch-Gebets ab. Seit 2017 leitet er die Kantorenausbildung am Kolleg.
Eine goldene Kuppel so hoch wie der Berliner Dom
Die jüdische Sakralmusik blickt gerade in Berlin auf eine lange Tradition zurück, auch wenn es seine Zeit dauerte, bis man sich in der Nachkriegsära wieder darauf besann. 1989, im Jahr der Wende, hatte man in der DDR eigentlich anderes zu tun, als sich um Sonderbriefmarken zu kümmern. Dennoch erhält Herrmann Simon, der Gründungsdirektor des Centrum Judaicum, einen Anruf aus dem Ministerium für Post- und Fernmeldewesen. Mehrere Motive oder Ereignisse würden von nun an ja „ausfallen“, wie etwa das Parlament der FDJ oder der Jahrestag der NVA. Es sei nun Platz für neue Motive wie etwa die Neue Synagoge in Berlin und den Komponisten Louis Lewandowski. Noch zwei weitere Anrufe, und schon steht eine geeignete Bild-Vorlage zur Verfügung: ein Ölgemälde von 1868, das den damaligen Königlichen Musikdirektor Berlins zeigt. Schmales Gesicht, halblange nach hinten gekämmte Haare, schwere Lider über dunklen Augen, ein dünner Moustache mit Ziegenbärtchen: Selbstbewusst blickt Lewandowski den Betrachter an.
Zwei Jahre vorher hat er mit einem imposanten Halleluja aus seiner Feder die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße eingeweiht – in Anwesenheit von Otto von Bismarck, der ihm persönlich gratuliert. Es war mehr als nur ein Termin für den damaligen preußischen Ministerpräsidenten. Schließlich symbolisiert das prachtvolle Gebäude mit 3 200 Sitzplätzen und einer goldenen Kuppel so hoch wie der Berliner Dom auch das Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde, die seinerzeit über 45 000 Mitglieder zählt. Seit dem preußischen Emanzipationsedikt von 1812 ist sie anderen Bürgern gleichgestellt. Ein Edikt, für das auch der Philosoph Moses Mendelssohn, der Großvater von Felix, gekämpft hatte, der als Vater der jüdischen Aufklärung und als Wegbereiter der Emanzipation des deutschen Judentums in die Geschichte einging.
Reform der Liturgie und Musik
Für Lazarus Lewandowski, einen 13-jährigen jüdischen Jungen aus dem polnischen Wreschen, bedeutet Berlin in jenen Jahren die Chance seines Lebens. Mit seiner schönen Stimme findet Louis, wie er sich nun in Berlin nennt, als „Singerl“ eine Anstellung in der Synagoge. Ein Lehrer auf dem Gymnasium vermittelt den Kontakt zu den Musik-Soiréen bei dem Bankier Alexander Mendelssohn, einem Cousin von Felix Mendelssohn Bartholdy. Dessen Musik wird Lewandowski prägen. Dank Alexander Mendelssohn, der ihm gründlichen Musikunterricht finanziert, schafft er – als erster Jude – die Aufnahme an der Berliner Akademie der Künste. Nach ersten weltlichen Werken konzentriert sich Lewandowski auf die Synagogalmusik, die in ihrer Entwicklung an einer Wende steht. In Abgrenzung zur orthodoxen Tradition wünscht sich das moderne liberale Judentum Reformen bei Liturgie und Musik – nicht nur in Berlin, sondern auch in Wien und in Paris.
Lewandowski erkennt den Geist der Zeit. Er setzt beim Chasan an, prangert die „Sangweisen“ und „überaus freie Manier – beßer Unmanier“ der oft „sehr ungebildeten und unmusikalischen Vorbeter“ an. Für ihre Gebete komponiert er neue Melodien, bearbeitet aber auch traditionelle Weisen. Er vertont hebräische wie auch deutsche Texte und verwendet das europäische Notationssystem, das man damals in der Sakralmusik nicht nutzt – was auch damit zusammenhängt, dass Texte von rechts nach links gelesen werden, während die Notation von links nach rechts ausgerichtet ist.
Der letzte Meister des tönenden Liedes
Vehement setzt sich Lewandowski für die Orgel ein, deren „Gebrauch“ nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 ebenfalls verboten wurde. Er komponiert Werke für Orgel solo, doch es geht ihm nicht um instrumentale Virtuosität, sondern ausschließlich um den Gesang des Chores, der Solisten und der Gemeinde. Mit Kol Rinnah u-T’fillah („Stimme des Jubels und des Gebets“) legte er 1871 seine erste Gesangssammlung für das jüdische liturgische Jahr vor. Seine Werke erinnern mitunter an deutsche Lieder im Volkston, weshalb man ihn den „Mendelssohn des Synagogalgesangs“ nannte. Als er 1894 stirbt, schreibt die Allgemeine Zeitung des Judenthums: „Er war der letzte Meister des tönenden Liedes in unserer Mitte … die Stimme, welche mehr als ein halbes Jahrhundert Israels Vergangenheit und seine Zukunft in unvergleichlichen Liedern gepriesen hat“.
Opernsänger in der Synagoge
Über Jahrtausende wurde die Funktion des Vorbeters im jüdischen Gottesdienst vom Vater auf den Sohn übertragen, heute kann man, wie Abramowicz, am Abraham Geiger Kolleg ein vierjähriges Studium ablegen, zu dem ein Jahr in Jerusalem und ein Abschluss an der Universität Potsdam gehört. Auch Frauen können sich heute zur Chasanot ausbilden lassen. Zum Curriculum am Kolleg gehören die Beherrschung der hebräischen Sprache, die Kenntnis sämtlicher Gebetbücher bis hin zu orthodoxen Quellen sowie der Tora mit ihren festgelegten musikalischen Motiven.
Auch im Gesang werden hohe Ansprüche gestellt. Nicht wenige Opernsänger begannen ihre Karriere als Kantoren. Die Fans des früh verstorbenen Tenors Joseph Schmidt pilgerten nicht nur aus spirituellen Gründen in die Synagoge, sondern auch, weil sie sich keine Opernkarten leisten konnten. Auch in Buenos Aires kamen die Synagogensänger „aus dem benachbarten Teatro Colón“, sagt Abramowicz. Sein Vorgänger in der Pestalozzistrasse, Isaac Sheffer, begann seine Laufbahn an der Oper in Israel. Tenor Abramowicz aber fühlt sich am wohlsten in der Synagoge. Ein Privileg aber hätte er gerne: Laut dem Codex Theodosianus aus dem Jahre 438 wurden Vorbeter von Steuern befreit. „Das gilt leider nicht mehr“.