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Sommerreihe: Starke Frauen – Hildegard von Bingen

Visionärin in vielerlei Hinsicht

Insgesamt 77 liturgische Gesänge verfasste Hildegard von Bingen in Neumennotation. In ihrer Musik versuchte sie, das Unsagbare zu erklären

vonMaximilian Theiss,

Ihre erste Vision hatte Hildegard von Bingen (1098-1179) im Alter von zwei Jahren. Da sah sie „ein so großes Licht, dass meine Seele erbebte“. So wird sie in ihrer Biografie zitiert, die bereits zu ihren Lebzeiten begonnen und ein Jahr nach ihrem Tode vollendet wurde. Als Kind erzählte sie noch ganz unbefangen, was sie in ihren Visionen sah, ehe sie gewahr wurde, dass derartige Äußerungen bei ihren Mitmenschen nicht nur als göttliche Gabe, sondern zumeist auch als Besessenheit gedeutet wurden. Im Jahre 1141 hatte Hildegard von Bingen, inzwischen zur Benediktinerin geweiht, die einschneidendste Vision in ihrem Leben: „Nun erschloss sich mir plötzlich der Sinn der Schriften, des Psalters, des Evangeliums und der übrigen katholischen Bücher des Alten und Neuen Testaments.“

In dieser Vision sah sie den Auftrag, ihre Schauungen aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Zehn Jahre später war die Visionsschrift „Scivias“ vollendet. Über den Mainzer Erzbischof erreichte die Schrift Papst Eugen, der eine Kommission ins Kloster schickte, um die Wahrhaftigkeit zu überprüfen. Schließlich folgte die offizielle klerikale Anerkennung von Hildegards Gabe der Schau. Ganz gleich ob diese Visionen auf eine Gottesgabe oder eine Erkrankung zurückzuführen sind (Teile der heutigen Forschung nehmen an, dass die Visionen durch eine starke Form von Migräneschüben entstanden sein könnten): Für die Äbtissin der Frauenklause des Klosters Disibodenberg waren sie wegweisend für ihr Wirken im Dienste Gottes.

Hildegard von Bingen
Hildegard von Bingen © shutterstock

Erklärte das Unsagbare in ihrer Musik: Hildegard von Bingen

Als Teil ihrer Visionen waren und sind auch ihre selbstkomponierten Gesänge zu verstehen, da für sie die Musik das Unsagbare, das mit reiner Vernunft nicht Fassbare erklärte. In diesem Geiste entwickelte sie eine regelrechte Theologie der Musik, die für sie auch die Suche des Menschen nach der Stimme des lebendigen Geistes ist. Diese Stimme ging in ihren Augen durch den Sündenfall verloren: „Adam aber hatte den Gleichklang mit der Stimme der Engel, den er im Paradies besaß, verloren“. Dass die biblischen Propheten Psalmen und Lieder verfassten, sei daher ein Weg gewesen, den Menschen doch noch zumindest einen Teil der himmlischen Harmonien erfassbar und erfahrbar zu machen.

Insgesamt 77 liturgische Gesänge verfasste Hildegard von Bingen in Neumennotation, zudem stammt von ihr das liturgische Geistliche Spiel „ordo virtutum“. Daher traf es sie entsprechend hart, als die Mainzer Kirchenbehörde das Interdikt über ihr Kloster aussprach, so dass ihr und ihren Ordensschwestern jeglicher Gottesdienst untersagt war. Grund dafür war, dass von Bingen einen von der Kirche Exkommunizierten auf ihrem Klosterfriedhof begraben ließ. In einem Brief an die Mainzer Prälaten erklärte sie, dass das (gesungene) Gotteslob Aufgabe und Berufung der Menschen sei, und fand darüber hinaus deutliche Worte: „Diejenigen, die der Kirche in Bezug auf das Singen des Gotteslobes Schweigen auferlegen, werden keine Gemeinschaft haben mit dem Lob der Engel im Himmel“. Ihr geharnischter Brief zeigte Erfolg, denn wenig später durften die Gottesdienstfeiern wieder aufgenommen werden – und damit auch Hildegards Kompositionen erklingen.

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