Da sitzt er an seinem Spieltisch, hoch oben im Essener Dom, und stimmt zusammen mit der Gemeinde das Gotteslob an. Leicht entrückt, in seinem musikalischen Können unfassbar brillant, so gar nicht von dieser Welt scheint der Organist zu sein, der hier seit 2014 seinen Dienst versieht. Aber der junge Mann mit der lustigen Lockenpracht und dem einnehmenden Lächeln steht mitten im Hier und Jetzt und kann gar nicht anders, als über den Kirchenraum hinauszublicken. Da draußen ließ Corona das Leben fast stillstehen, in der Ukraine herrscht seit über zwei Jahren Krieg, die rechte Gewalt breitet sich immer weiter aus, das Klima spielt verrückt.
Was Menschen sich gegenseitig antun und die Natur geradewegs mit ins Unheil reißen, ist unverzeihlich. „Oh Mensch! Gib Acht!“, ruft Sebastian Küchler-Blessing ihnen zu. So heißt das neueste von ihm gemeinsam mit dem Trompeter Reinhold Friedrich veröffentlichte Album, das eine Zeile aus Gustav Mahlers 3. Sinfonie zitiert. Zusammen mit dem Trompeter André Schoch sowie dessen Schwester, der Blockflötistin Kristina Schoch, hat das Duo Friedrich/Küchler-Blessing dieses Projekt, das dem Domorganisten so sehr am Herzen lag, realisiert. Und das, obwohl Küchler-Blessing Aufnahmen eigentlich scheut. „Es muss schon ein zwingender Grund vorliegen, Repertoire einzuspielen und vor allem sinnvoll zusammenzustellen, ohne nur die Klangpracht der Orgel feiern zu wollen“, betont er.
Bedachtsamkeit und das völlige Fehlen von Eitelkeiten kombiniert sich bei dem 1987 im Schweizer Üechtland geborenen Organisten mit wacher Intelligenz und erfrischender Präsenz. Sein Lebensmotto ist so einfach wie auch umfassend: „Es muss immer um den Menschen gehen.“ Dabei schwingt der Plural gleich mit, und das in stattlicher Zahl und Frequenz. Für die Menschen ist er da, rund um die Uhr, könnte man sagen. Denn was Sebastian Küchler-Blessing leistet, ist fast unglaublich. Bei über fünfhundert Gottesdiensten pro Jahr, von Andacht bis zum feierlichen Pontifikalamt, sitzt er an der Rieger-Orgel der Bischofskirche.
Über die „normalen“ Konzerte hinaus initiierte er die Reihe „Dimension Domorgel“ mit Kammermusik und weiteren Kunstformen sowie kammermusikalische Lunchkonzerte im Kreuzgang des Doms – hierbei mit Fokus auf der Nachwuchsförderung. Er unterrichtet an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf und ist als Juror tätig, so im vergangenen Jahr als Juryvorsitzender beim Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Hochschulwettbewerb in Berlin. Und ja, er ist auch bei Festivals und in Konzerthäusern ein gern gesehener Gast. Regelmäßig wird er etwa zu den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern, der Bachwoche Ansbach, in die Elbphilharmonie und die Philharmonie Essen eingeladen. Sein Pensum ist enorm.
Mehrfach ausgezeichnet
Mit zweieinhalb Jahren hatte er die Liebe zur Orgel entdeckt, mit elf Jahren erhielt er ersten Unterricht. Preise blieben nicht aus. Als seinerzeit einziger Organist erhielt er bei „Jugend musiziert“ Erste Bundespreise mit Höchstpunktzahl sowie Sonderpreise in den Fächern Orgel solo und Klavier solo. Er gewann den bereits erwähnten Mendelssohn-Preis (wo er später in der Jury sitzen sollte), wurde mit dem 1. Preis der Internationalen Orgelwoche Nürnberg ausgezeichnet und ist Leipziger Bachpreisträger.
Bescheiden wie er ist, erklärt er, dass solche Auszeichnungen als Meilensteine „zwar wichtig“ für die musikalische Entwicklung seien, aber eben nicht alles. Im Unterrichten weist Küchler-Blessing seine Schüler und Studenten immer wieder darauf hin, dass sie sich nicht hinter ihrem Instrument verstecken sollen, sondern aktiv daran arbeiten, den richtigen Umgang mit Konzertveranstaltern und den Medien zu lernen. „Selbst gestalten, nicht warten“, so sein Credo. Denn letztendlich laute der Auftrag Gottes nicht, die Hände in den Schoß zu legen und andächtig auf bessere Zeiten zu hoffen. „Ja, Gottesdienst ist Dienst an Gott“, sagt der Domorganist. Zusätzlich aber stehe doch das Glück der Menschen im Zentrum der Betrachtung. „Wie heißt es so schön: ‚Sich regen bringt Segen.‘“ Diese Lebensweisheit, die auf den Dichter Friedrich Rückert zurückgeht, macht Hoffnung – gerade in schwierigen Zeiten.