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Porträt Martin Tingvall

Der Grenzgänger

Wie der Pianist und Komponist Martin Tingvall zwischen Jazz-Trio, Filmmusik und einer Hamburger Ikone pendelt.

vonJakob Buhre,

So manche Karriere beginnt mit einem Misserfolg: Als sich Anfang der 1990er-Jahre der 18-jährige Martin Tingvall in Schweden an der Musikhochschule auf einen Platz in einer Klavierklasse bewirbt, bekommt er eine Absage. „Ich wollte eigentlich Konzertpianist werden, aber bei der Aufnahmeprüfung waren andere besser als ich“, erinnert sich Tingvall. Mit neun Jahren hatte er sich zum ersten Mal im Wohnzimmer seines besten Freundes ans Klavier gesetzt und versucht, Melodien aus dem Radio nachzuspielen. Bald darauf dokumentierte er mit dem Kassettenrekorder die ersten kompositorischen Gehversuche.
Der verpasste Studienplatz tat seinem kreativen Drang keinen Abbruch, im Gegenteil: Tingvall besuchte zunächst eine musikalische Volkshochschule in Südschweden, studierte später Jazz und Komposition in Malmö – und wurde sich immer mehr seines Ziels gewiss: „Meine eigene Musik zu komponieren und zu spielen, das war für mich der größte Wunsch – und das mache ich heute.“

Anfang der 2000er-Jahre zieht Tingvall nach Hamburg, wo er mit dem Schlagzeuger Jürgen Spiegel und dem Bassisten Omar Rodriguez Calvo ein Ensemble gründet. Mit poppigen Grooves, farbenreicher Harmonik, eingängigen Melodien und nachdenklichen Zwischentönen macht sich das Tingvall Trio bald einen Namen, findet ein festes Zuhause beim Hamburger Jazz-Label Skip Records, gewinnt Preise wie den Jazz-Echo und klettert gelegentlich auch in die Pop-Charts.
Seit 2012 hat Martin Tingvall auch vier Solo-Alben vorgelegt, auf denen er das Jazz-Idiom häufig verlässt und Klassik-Einflüsse hörbar werden. „In den letzten zwanzig Jahren habe ich viel mehr Bach oder Arvo Pärt gehört als Miles Davis oder Duke Ellington. Chopin fasziniert mich, seine Balladen, oder die Stimmung und die Harmonien bei Grieg.“

Gemeinsamkeiten mit Udo Lindenberg

Sich auf ein Genre festzulegen, käme Tingvall allerdings nicht in den Sinn. „Ich bin ein Grenzgänger. Ich finde es toll, wenn musikalischer Ausdruck Menschen berührt, wenn diese Magie da ist – dafür spielt es aber keine Rolle, ob ich einen Song von AC/DC höre oder ein ­Orchester.“ So verwundert es nicht, dass Tingvall gelegentlich als Songwriter für Künstler aus dem Rock- und Pop-Bereich aktiv ist. Begonnen hat dies mit Udo Lindenberg, den Tingvall durch ein Tournee-Engagement kennenlernte und für den er unter anderem die Melodien zu „Wenn du durchhängst“ oder „Woddy, woddy Wodka“ schrieb. „Udo ist sehr vielseitig, er ist Rock ’n’ Roller, aber auch Jazzer, er liebt die große Melodie – und das tue ich auch. Wir haben musikalisch viele Gemeinsamkeiten, er war früher Schlagzeuger, ich habe eine große Affinität zu Rhythmus … Und dann saß ich irgendwann am Flügel, habe etwas geschrieben und gedacht: Das könnte ein Udo-Song sein.“

Auch für eine andere deutsche Institution steuerte der gebürtige Schwede bereits Musik bei: für die Kölner „Tatort“-Folgen „Scheinwelten“ (2013) und „Durchgedreht“ (2016) komponierte Tingvall den kompletten Soundtrack. Zuletzt vertonte er 2021 die ARD-Serie „Die Toten von Marnow“ – und stand kurz darauf wieder als Jazzer vor der Kamera, als die SWR-Bigband ausgewählte Stücke arrangierte.

Doch egal in welchem Format oder Ensemble man ihn erlebt: Tingvall spielt Tingvall. „Früher auf der Volkshochschule habe ich natürlich auch Jazz-Standards und Werke anderer Komponisten interpretiert, aber das mache ich heute nicht mehr. Wenn ich jetzt ein Album aufnehme, dann habe ich ja selbst schon hundert Mal mehr Ideen als Songs auf die CD passen.“ Und was ist mit den erfolgreichsten Songkomponisten Schwedens? Tingvall schmunzelt. „Ich habe tatsächlich schon mal ABBA gespielt, 2002 war ich für ein paar Tage Ersatz­pianist beim Musical „Mamma Mia“ im Hamburger Operettenhaus. Neben dem Klavier musste ich auch einen Sampler bedienen, der dann vom Band den Refrain „Mamma mia“ abgespielt hat. Einmal bin ich während der Show kurz eingeschlafen, als ich wieder aufwachte, habe ich sofort den Knopf gedrückt – aber das war an der ganz falschen Stelle und auf der Bühne entstand ein großes Chaos. Nach der Vorstellung kam der musikalische Leiter zu mir und hat mir noch ein gutes Leben gewünscht.“

Album-Tipp:

Album Cover für When Light Returns

When Light Returns

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