In Norwegen ist man einsam. Alle wohnen in Holzhütten, im Wald oder an endlosen Seen gelegen. Im Winter gibt es schönen Schnee, der entweder Langläufer anlockt oder Mörder, die ihren Opfern im moosigen Unterholz zu elegischen Klängen auflauern. Mittendrin eine Geigerin, die trauert und sehr einsam ist. Ja, Mari Samuelsen hat in einem Video Musik von Uno Helmersson gespielt, Schneeflocken tanzen um sie herum. Sie trägt einen engen schwarzen Rollkragenpullover, ihre Haare sind zum strengen Zopf gebunden. Macht in Summe 380.000 Aufrufe auf YouTube, die von einer gesteigerten Aufmerksamkeit bei Menschen zeugen, die Kommentare schreiben wie: „Ich bin eigentlich kein großer Klassik-Fan, aber …“.
Auf ihrem knapp „Mari“ betitelten Doppelalbum finden sich Stücke von Max Richter, Brian Eno und Jóhann Jóhannsson, der den mystischen Soundtrack zum Science-Fiction-Kunststück „Arrival“ lieferte. Wer jetzt noch weiß, dass die schlanke, selbstverständlich blonde Geigerin, die 1984 in Hamar geboren wurde, mit Blick auf den nahegelegenen Mjøsa-See vergleichsweise zurückgezogen lebt, hat ein völlig falsches Bild von ihr. Mari Samuelsen ist keine Elfe. Sie ist ein Energiebündel.
Verdammt viele Bananen vor jedem Auftritt
Erst mal eine Banane. Die braucht sie, um den Interviewmarathon bei ihrer Plattenfirma durchzustehen. Bananen sind auch ihr Geheimrezept vor einem Auftritt, und zwar „verdammt viele“. Ein Ritual, vor allem bei langen Auftritten mit Max Richter, mit dem sie oft zusammenarbeitet. Auch auf den zahlreichen Konzertreisen hilft ihr der schnelle Snack. Überhaupt, die Schnelligkeit: „Wir sind überall erreichbar, 24 Stunden am Tag. Wir wollen diese Art der Kommunikation – aber es ist wie ein Zirkus.“ Ihr aktuelles Album, sagt sie, sei auch eine Reflexion auf die vollkommen unnatürliche Lebensweise, die wir heute haben.
Die 12-minütige Komposition „Lonely Angel“ von Pēteris Vasks sei eine Meditation, die sie näher an die Stille heranbringt. „Sequence (Four)“ dagegen, ein Stück des britischen Komponisten und Cellisten Peter Gregson, kommt wie aus der Maschine geschossen. Und tatsächlich: Die schnell sequenzierten Noten sind eigentlich für elektronisches Instrumentarium vorgesehen, also für eine Programmierung. „Ich glaube, ich spiele 1.300 Noten in den zwei Minuten“, lacht Samuelsen. Auch „Heptapod B“ von Jóhann Jóhannsson basiert auf einer Partitur für Elektronik. Die Herausforderung in der Interpretation war, mit Imitationen zu arbeiten und zahlreiche Effekte einzusetzen. „Bei der Einspielung hatten wir schließlich einen gewissen Space Sound gefunden, dazu kam die Post Production.“
Mari Samuelsen: Verehrung für Popstar Lady Gaga
Auf der Suche nach dem richtigen Klang mag ihr auch die Erfahrung geholfen haben, sich in völlig anderen akustischen Räumen zu bewegen – nämlich in Clubs und auf Partys, auf denen DJs die neuesten Produktionen auflegen. Daneben verehrt sie Lady Gaga. „Ja, Woman Power! Niemals aufgeben, mach es einfach!“ Das war schon in ihrer Kindheit das Motto. Mit drei Jahren fing Samuelsen an zu spielen. „Eigentlich wollte ich ein Cello, wie mein Bruder. Dann habe ich eine Geige bekommen. Noch bevor ich eingeschult wurde, habe ich Konzerte gegeben, sozusagen als Wunderkind. Aber es war locker. Ich und mein Bruder haben zusammen geübt, sind dann in den Wald raus zum Rumtollen, und anschließend haben wir weitergemacht. Nicht diese russische Schule mit eiserner Disziplin, sondern ganz ohne Druck. Wir haben so schön zusammengespielt – auch draußen im Wald. Da hören sich die Instrumente ganz anders an.“
Was mag sie noch an ihrer Heimat? „Darf ich das sagen: Ich bin Jägerin. Im Herbst gehe ich in den Wald und esse dann, was ich geschossen habe. Außerhalb von Hamar gibt es einen großen Bestand an Elchen. Erstaunlicherweise bewegen sich diese großen Tiere – 200 oder 300 Kilogramm schwer – vollkommen lautlos.“ Für die agile Geigerin kein Problem: „Als Jäger hörst du sehr präzise, jeden Laut, auch aus großer Entfernung …“ Vor herumstreunenden Mördern muss sie also keine Angst haben.
Mari Samuelsen in ihrem Video „Timelapse“: