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Porträt Jérémie Rhorer

Meister der Reduktion

Jérémie Rhorer stellt sein künstlerisches Schaffen unter das Motto „Weniger ist mehr“ – und entdeckt auf diesem
 Weg ganz neue interpretatorische Ansätze.

vonHelge Birkelbach,

Als Jérémie Rhorer 2009 mit Le Cercle de l’Har­monie drei Mozart­ Sin­fonien auf CD veröffentlichte, horchte die Klassikwelt auf: So viel interpretatorische Chuzpe war man von einem solch ver­hältnismäßig jungen Dirigen­ten nicht gewohnt. Das Orches­ter, das Rhorer vier Jahre zuvor gegründet hatte, spielte auf Originalinstrumenten. Der Aufnahmeort: eine umgebaute Scheune im Limousin, eine Region, die vom imposanten Zentralmassiv geprägt ist. Mancher Rezensent wunderte sich damals, dass das Dach bei der Aufnahme ob der musizie­renden jungen Wilden nicht weggeflogen ist.

Jérémie Rhorer: „Ich habe mich seit den Anfängen wei­terentwickelt“

Ein Jahr zuvor, 2008, wurde der Dirigent von der französischen Kritik zur „Entdeckung des Jahres“ gekürt. Spricht man mit Jérémie Rho­rer, der sein Rüstzeug als As­sistent von Marc Minkowski und William Christie erwarb, tritt ein konzentrierter Geist zutage, der unaufgeregt und mit bedächtiger Stimme seine Gedanken formuliert. Mozart und Alte Musik decken nur zum Teil das Repertoire ab, das den international gefragten Dirigenten umtreibt. „Ich habe mich seit den Anfängen wei­terentwickelt. Orchestration, Form und Harmonie erfuhren in der Musik des 19. Jahrhun­derts eine wesentliche Vertie­fung, die mich neugierig mach­te und weiterhin beschäftigt. Das hat auch damit zu tun, dass ich mein Studium als Kompo­nist am Conservatoire National Supérieur de Paris begann und mich dann erst mit dem Diri­gieren befasste.“

Für Rhorer ist Komponieren die Basis des musikalischen Verständnisses. Es helfe bei der Interpretation, dem Geist des jeweiligen Komponisten näher zu kommen. Psychologie, dramatische Be­sonderheiten, die Zeichnung der verschiedenen Charaktere einer Oper: All das verstehe man besser, wenn man die Techniken kennt, die im Werk eingesetzt werden. „Wenn du nicht respektierst, auf welche Art der Komponist individuel­le Lösungen für seine Ideen gefunden hat, veränderst du alles.“
 Rhorer war Schüler von Thierry Escaich, der heute zu den bedeutendsten französischen Organisten und Komponisten zählt. „Ich habe so viel von ihm gelernt. Er ist einer der begabtesten Musiker der Welt“, schwärmt der 45-Jährige.

Jérémie Rhorer
Jérémie Rhorer

Abschied von Traditionen und Gewohnheiten

Die parallele Tätigkeit als Dirigent und Komponist, ergänzt durch seine Erfahrung als Cembalist, brachte dem in Paris geborenen Rhorer zahlreiche Kompositionsaufträge des französischen Rundfunks ein. 2017 beauftragte ihn das Philharmonia Orchestra gemeinsam mit dem Pariser Théâtre des Champs-Elysées, ein Klavierkonzert für den französischen Pianisten Jean-Yves Thibaudet zu schreiben. Die Uraufführung soll 2020 stattfinden. „Ich bin etwas in Verzug, muss ich zugeben. Im Moment besteht die Komposition nur aus einem schnellen Satz. Er basiert auf einem Film von Claude Lelouch. Mehr kann ich derzeit noch nicht verraten.“

Vielleicht bleibt es nur bei diesem einen Satz. Das würde nicht weiter erstaunen, denn der Franzose schätzt das Wesentliche, die Reduktion. Weniger ist mehr – das sei etwas, das er sehr wertschätze und als wichtig erachte, erklärt Rhorer: „Wenn man die Originalpartituren analysiert und relevante Literatur hinzuzieht, kommt man irgendwann fast automatisch dazu, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Man verabschiedet sich von gewissen Traditionen und Gewohnheiten, die sich mit der Zeit eingeschlichen haben.“

Im Opernrepertoire bietet sich für Rhorer ein zusätzlicher, äußerst wertvoller Ansatz: der Text. „Manchmal lese ich nur das Libretto, ohne die Musik im Kopf zu haben. Bei Mozart oder Wagner natürlich auch in deutscher Sprache. Als Schüler war ich ganz gut in Deutsch – bis zu meinem 17. Lebensjahr. Danach wurden die Musik und das Komponieren wichtiger.“ Weniger ist mehr: Das war auch eine Erfahrung, die er im Studium des Cembalospiels machte. „Das Klangspektrum des Cembalos ist zunächst einmal limitiert. Aber ich erfuhr durch meine Lehrer, welche Techniken es gibt, den Klang zu erweitern. Diese Techniken nutze ich nun, um sie auf ein großes Orchester zu übertragen. Das lieferte mir eine Menge Ideen – und öffnete in gewisser Weise auch meinen Geist.“

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