Es ist eine klingende Botschaft des Schmerzes und des Trostes. Hört und sieht man auf YouTube, wie Ilya Gringolts die Chaconne aus Bachs d-Moll-Partita spielt, hat man den Eindruck, hier koste ein Musiker die höheren Weihen des Geigenspiels mit jener selbstlosen Hingabe aus, die zur Tugend wahrer Meister zählt. Während der erste Corona-Lockdown im Sommer 2020 in Deutschland die Kultur ausbremst, feiert der 38-jährige russische Geiger in der Reformierten Kirche Marthalen ein Schlüsselwerk jener Geigenkunst, die in der kontemplativen Versenkung in das Soloinstrument tiefste Gedanken mit gewaltigen Empfindungen verbindet.
Der seit 14 Jahren in der Schweiz lebende Gringolts ist kein Barockgeiger im engen Sinn, und was die historische Aufführungspraxis angeht, bezeichnet er sich als Autodidakt: „Ich habe einfach einiges gelesen und ausprobiert. Deshalb sollte man nicht zu hart urteilen“, sagt er. Zu harten Urteilen gibt es indes auch keinen Grund, denn Gringolts hat seine Hausaufgaben gemacht. „Während des ersten Lockdowns habe ich fast ausschließlich Barockmusik gespielt und viel neues Repertoire entdeckt.“ Neues altes Repertoire, sollte man vielleicht präzisieren, damit keine Missverständnisse entstehen, denn Gringolts ist zugleich ein passionierter Botschafter zeitgenössischer Musik und hat in der Zeit der coronabedingten Schließung von Opern- und Konzerthäusern zusammen mit dem israelischen Dirigenten Ilan Volkov die „I&I Foundation“ gegründet, die Aufträge an junge Komponistinnen und Komponisten vergibt.
„In dieser Hinsicht ist die Neue Musik viel interessanter“
„Für einen Interpreten ist es vielleicht das schönste Erlebnis überhaupt, mit einem Komponisten zusammenzuarbeiten. In dieser Hinsicht ist die Neue Musik viel interessanter“, sagt Gringolts, der in anderer Hinsicht aber auch nach epochenübergreifenden Bezügen in der Musik sucht: „Vor allem reizt mich die Art und Weise, wie die Alte Musik die Neue Musik beeinflusst. Dieser Diskurs ist in anderen Kulturen viel präsenter als in der westlichen klassischen Musik, die sehr vergangenheitsorientiert ist.“ Die Gegenüberstellung von Alt und Neu in den Konzertprogrammen findet ihr Pendant in Einspielungen des kompletten Violinwerks von Igor Strawinsky vor wenigen Jahren oder der hochgelobten Aufnahme von Paganinis 24 Capricen für Violine solo im Jahr 2013.
Ohnehin ist der Name des berühmtesten Geigenvirtuosen des 19. Jahrhunderts eng mit der Karriere Ilya Gringolts verknüpft, der mit 16 Jahren den internationalen Violinwettbewerb Premio Paganini für sich entschied, dessen jüngster Gewinner er bis heute ist. Damals studierte er als Sohn eines musikliebenden Physikerehepaars noch in Sankt Petersburg bei der strengen Pädagogin Tatiana Liberova. Ist es wahr, dass dann Itzhak Perlman durch eine weitergereichte Videokassette auf Gringolts aufmerksam wurde und ihn nach New York einlud? „Ja, das stimmt. Er hat mich zu seinem Summercamp in Long Island eingeladen hatte. Im Folgejahr wurde ich sein Schüler an der Juilliard School. Ich habe das Leben in New York sehr genossen, vor allem kulturell – die vielen Ausstellungen und Jazz-Clubs.“
„Das ist gefährlich für die Kunst“
Heute lebt Gringolts mit seiner Familie in Zürich, wo er an der Hochschule ebenso unterrichtet wie an der Accademia Chigiana in Siena. Mit seiner Frau, der Geigerin Anahit Kurtikyan, gründete er vor zwölf Jahren das inzwischen international renommierte Gringolts Quartett, zwei seiner Töchter spielen ebenfalls Geige, eine Klavier. Ob die sich, wie der Vater, auch eines Tages mit der Teilnahme an Wettbewerben profilieren werden, ist fraglich, denn Ilya Gringolts lehnt diese Form der Konkurrenzkultur inzwischen kategorisch ab: „Ich finde Wettbewerbe eigentlich unnötig: Sie sind schlecht für die Musik, die Musikwahrnehmung, die Ausbildung und persönliche Kreativität. Um zu gewinnen, muss man eine Jury von ganz unterschiedlichen Leuten beeindrucken und dafür einen mittleren Weg einschlagen, also Kompromisse eingehen. Das ist gefährlich für die Kunst. Es gibt viele, die danach weiterhin so spielen, als ob sie immer noch gewinnen müssen.“
Hörerlebnisse der besonderen Art
Für Gringolts gilt das selbstredend nicht. Er hat seinen eigenen Weg, seine eigene Ausdrucksweise und künstlerische Integrität längst gefunden und zuletzt drei Violinkonzerte von Pietro Locatelli eingespielt: „Es ist meine Debütaufnahme mit einem Barockinstrument, und es freut mich wahnsinnig, dass ich mit einem richtigen Barockorchester zusammenarbeiten durfte.“ Von seiner mit Darmsaiten bezogenen Geige von Ferdinando Gagliano aus leitet Gringolts das Finnish Baroque Orchestra. Als nächstes möchte er sich dann noch einmal Bachs Chaconne vornehmen und sie mit neuen Werken von Heinz Holliger, Brice Pauset und Roberto Gerhard kombinieren. Auch dieses Projekt verspricht Hörerlebnisse der besonderen Art.