Als „Bürgerschreck“ hat man Paul Hindemith beschimpft, als spießig-autoritätshörigen „Musikanten“ (Theodor W. Adorno), als „atonalen Geräuschemacher“ (Joseph Goebbels) und „die gemeinste Perversion der Deutschen Musik“. Und ein Asteroid wurde nach ihm benannt. 1895 in Hanau geboren, wurde er Anfang der 1920er-Jahre mit skandalträchtigen Operneinaktern wie „Mörder, Hoffnung der Frauen“ (nach Oskar Kokoschka) und „Das Nusch-Nuschi“ schlagartig bekannt und narrte das Publikum mit (leider verschollenen) „Dramatischen Meisterwerken“, die Titel trugen wie „Festmarsch: Das Grab ist meine Freude“, „Musik für 6 Instrumente und einen Umwender“ oder der „Gouda-Emmental-Marsch“. „Wir machen auch Musik, jedoch solche, welche nur extra präparierte Ohren ertragen können. Am besten solche, die mit Watte zugestopft sind… Auch Sie sind herzlich dazu eingeladen. Bringen Sie aber bitte gleich Aspirin mit“, hatte er sein Publikum bereits 1913 gewarnt.
Ein glänzender Aufstieg
Hindemith wusste, wie die „Show“ funktioniert. Als Kind war er mit den Geschwistern als „Frankfurter Kindertrio“ durch die Dörfer gezogen, unter dem Drill des Vaters, einem Handwerker, der unbedingt für seine Kinder das wollte, was sein Vater, ein Kaufmann und Ratsherr im schlesischen Naumburg ihm versagt hatte: die Musikerlaufbahn.
Für Paul lief alles glänzend. 1915 wurde er Konzertmeister an der Frankfurter Oper und baute als Bratscher das Amar-Quartett zu einem führenden Ensemble auf. 1924 heiratete er die Musikerin Gertrud Rottenberg, die Tochter des Kapellmeisters des Frankfurter Opernorchesters und Enkelin des einstigen Frankfurter Oberbürgermeisters Franz Adickes. Hindemiths Schwager wiederum war Hans Flesch, der Leiter des Frankfurter Senders. Beste Kontakte, um sich als Komponist zu etablieren – umgeben von bekannten Dirigenten, wie Sergej Kussewitzky oder Clemens Krauss, die viele Uraufführungen übernahmen. Für „famos“ hielt ihn auch Otto Klemperer, dem Hindemiths Musik „frische Luft und kein Pathos mehr“ war. Hindemiths Oper „Cardillac“ von 1926 wurde erst durch Klemperer ein Erfolg.
Hindemith, der Eisenbahnverrückte
Ab 1927 ist Hindemith Professor an der Berliner Musikhochschule und dort bekannt für manche Leidenschaft: etwa für die „verstaubte“ Viola d’amore oder das Trautonium, einem Vorgänger des Synthesizers. Und für die Modelleisenbahn. Eine Studentin erinnert sich: „Er besaß damals 300 Meter Schienen, die raffiniertesten elektrischen Bahnen mit Fernweichen und Signalen. Sonntags konnte er… einen minutiösen Fahrplan ausarbeiten, der jedem Stationsvorstand Ehre gemacht hätte… Einen halben Tag lang wurde durch drei Zimmer hindurch aufgebaut. Nachmittags ging es los; jeder bekam einen Fahrplan und eine Stoppuhr und musste einen Zug bedienen, der genau die angegebenen Halte- und Ausweichstellen einhalten und zur richtigen Sekunde ankommen musste. Frau Hindemith erzählte, dass oft morgens um zwei oder drei Uhr die Männer (besonders wenn Artur Schnabel – auch ein großer Eisenbahnverrückter – dabei war) erschöpft und bleich bei ihr um einen Schnaps baten.“
Der Fall Hindemith
In den dreißiger Jahren aber verdüstert sich die Stimmung. 1929 hatte Hitler sich über seine Oper „Neues vom Tage“ beschwert. Den Eklat aber löste Hindemiths „Mathis der Maler“ 1933 aus, eine Oper, in der es um den Künstler im Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik geht. Als „Vorgeschmack“ hatte Wilhelm Furtwängler eine aus dem Werk destillierte Sinfonie 1934 mit großem Erfolg uraufgeführt. Das setzte einen von Nazis angezettelten Aufführungsboykott in Gang, den Furtwängler versuchte, mit einem Plädoyer für die Freiheit der Kunst in dem Artikel „Der Fall Hindemith“ aufzuhalten. Dennoch: Ein NS-verfolgter und ins Exil getriebener Komponist war Hindemith nicht. 1938 wurde ihm der „Polizeiauslandsvermerk“ in seinem deutschen Pass erneuert, mit dem er problemlos reisen konnte, ob in die Türkei, um das neue Musikschulwesen zu organisieren, oder in die USA. Bis 1944 wurden seine Kompositionen von NS-konformen Musikwissenschaftlern positiv besprochen, seine Noten verkauft, seine „Unterweisung im Tonsatz“ mehrfach publiziert. Zugleich wurde ihm 1936 ein Aufführungsverbot erteilt. 1937 kündigte Hindemith in Berlin.
„Ein leidlich dressierter Podiumshengst“
1940 zogen die Hindemiths nach New Haven (Connecticut), wo er in Yale bis 1953 lehrte. Trotz der amerikanischen Staatsbürgerschaft blieb sein Verhältnis zu Amerika zwiespältig. Der Jazz eines Duke Ellington faszinierte ihn, doch die obligatorischen Partys verabscheute er: „Und dann kam die Reception, bei der ich wie eine Fettgriebe in der Blutwurst von allen guten Geistern verlassen war und dem sinnlosen Geschwätz und Gefrage von Hunderten von Bratschern, Komponisten, Autogrammsammlern und meistenteils zu alten und zu fetten Weibern ausgesetzt war. Es war ebenso heiß wie schauderhaft.“ Als treibende Kraft hinter der später eingeschlagenen Karriere als Dirigent vermuteten Freunde seine Frau. Er selbst empfand sich als Komponist und Lehrer und „erst danach“, als „ein leidlich dressierter Podiumshengst“. 1953 ließ sich das Ehepaar bei Vevey am Genfersee nieder.
Als junger Mann war Hindemith ein Musikant, der sämtliche Instrumente beherrschte und aus dem Stegreif Kanons erfinden konnte. Mit zunehmendem Alter bildete sich ein Hang zum Metaphysischen und zur Gelehrsamkeit. Als Komponist sah er sich als Handwerker und distanzierte sich vom romantischen Geniebegriff, das durch Inspiration beflügelt wird. Er hinterließ Orchesterwerke, Solokonzerte, Kammermusik für unterschiedlichste Besetzungen, Chorwerk, Liederzyklen, Opern und Ballette, sowie theoretische Schriften. Seine letzte Oper „Die Harmonie der Welt“ über Johannes Kepler entstand 1957. Er starb 1963 in Frankfurt.