In diesen Spätsommertagen ist der prominenteste Zugezogene der Stadt fast allgegenwärtig. Nicht ganz so heftig wie in Salzburg, wo eigentlich immer Ausnahmezustand in Sachen Mozart herrscht. Doch Dante, der geflüchtete Florentiner, der hier in Ravenna sein Hauptwerk schuf, überspannt mit prägnanten Zitaten die Straßen der herrlichen Stadt der Künste. Ihm ist eine Ausstellung mit zeitgenössischen Anverwandlungen seines markanten Konterfeis (sein Kinn und seine Nase sind nun mal eine Herausforderung, der sich Künstler aller Arten gern stellen) gewidmet. Und die Teigtaschen-Leibspeise, die man zu sich nimmt, wenn es mal schnell gehen oder der Hunger zwischendurch gestillt werden muss, die stadttypische Piadina also, ist mit besonders feinen Füllungen erhältlich, die den drei Hauptteilen der „Divina Commedia“ sensibel zugeordnet sind. Im „Inferno“ geht es dabei deutlich scharfwürziger zu als im ziemlich mild mit Käse und Lachs ausgedeuteten „Paradiso“.
Die Grenzen zwischen den Kunstgattungen fließen
Natürlich hat sich auch das Ravenna Festival den größten Dichter des Stiefelstaats, der nebenbei der Erfinder des heute üblichen Italienisch ist, auf die Fahnen des aktuellen Jahrgangs geschrieben. Dantes 700. Todestag – der Meister starb am 14. September 1321 in Ravenna – ist ja in der Tat eine programmatische Steilvorlage, seine „Göttliche Komödie“ auf ihre Aussagekraft für die Gegenwart zu befragen. Und da das Ravenna Festival von jeher die Grenzen zwischen den Künsten durchlässig macht, zwar das (nie nur klassische) Konzert im Sommerprogramm als Form dominiert, aber Drama, Tanz und Oper (die meist die szenische Herbsttrilogie bestimmt) gleichberechtigt einbezieht, kommt nun die festivaleigene multiperspektivische Weite der Ehrung Dantes deutlich entgegen. Denn wie man sich der „Commedia“ nähert, wie die Italiener das komplizierte Epos, das jeder Schüler lesen muss, etwas verniedlichend nennen, das ist ja nun mal von Dante nicht vorgegeben. Dramatisierungen stehen auch in deutschen Theatern immer wieder auf den Spielplänen, wobei hierbei der finstere Teil 1, mithin die „Inferno“-Hölle, meist die beste Bühnentauglichkeit beweist. Es gibt schließlich mehr als genug Parallelen, um die Grausamkeiten des Mittelalters zeitgemäß zu bebildern.
In der Hölle herrscht das Klischee
Just das „Inferno“ des Tanztheaterabends „Dante Metánoia“, das jetzt die Herbsttrilogie des Ravenna Festivals als Uraufführung eröffnete (mit einer neuen Version von Schumanns Faust-Szenen geht es am dann 1. Oktober in die nächste Runde), ist indes seltsamerweise der mit Abstand schwächste der Dantes Dreischritt folgenden Teile. Das kann passieren, zumal Sergei Polunin für sein Konzept neben dem sich selbst und seiner eigenen choreographischen Fantasie anvertrauten „Purgatorio“ zwei weitere Choreographen mit jeweils eigenen Teams engagiert hat, was der dramaturgischen Geschlossenheit des Abends nur bedingt zuträglich ist, aber auch Absicht sein kann.
Polunins grandiose One-Man-Show
„Inferno“ wird also zunächst von Ross Freddie Ray verantwortet. Dessen erstaunlich (ballett-) klassische Drehungen und Sprünge, die Polunin, der einstige Primo Ballerino in Moskau, St. Petersburg und London, mit maximaler Spannkraft in fürwahr kraftstrotzender Gesundheit ausführt, scheinen in ihrem gar nicht erdigen oder gar unterirdischen Ästhetizismus etwas aus der Zeit und dem Thema gefallen. Zumal die Videogame-Sprache von Yan Yanko und die mal klangteppichbanale mal technohämmernde Musik von Miroslav Bank in eine ganz andere Richtung weisen. Klar, da ringt ein Mann mit seinem Schicksal, wird wie Wagners Siegfried im Feuer gestählt und kämpft mit dem bösen Drachen. Der Alptraum der Flucht vor einem schrecklichen Ungeheuer, wie er in kindlichen Urängsten in uns abgespeichert scheint, gehört indes zu den stärksten Szenen des „Inferno“-Teils. Dass Polunin hier und da einer Frauenstatistin begegnen muss, die ihm als Wiedergängerin der Dante-Geliebten Beatrice Erlösungshoffnungen macht, lässt in ihrer Nähe zum Geschlechterklischee ein womöglich nicht ganz zeitgemäßes Frauenbild des Videodesigners vermuten. Zumal Protagonist Polunin ja ganz ohne Pas de Deux-Partnerinnen auftritt, die weibliche Figur somit keinerlei Differenzierung erfährt, sondern nur als Setzung in den Raum gestellt wird. Allerdings erfreut man sich trotz allem an der durchaus grandiosen One-Man-Show, für die ein Polunin, dieser Berserker des Tanzes, in aktueller Topform allemal gut ist. Doch Dantes Genialität und Komplexität wird dennoch deutlich unterlaufen. Nun denn: Dantes Hoch- trifft aktuelle Popkultur. Derlei verkleinernde Unterkomplexität tut der geistigen Grandezza des in Ravenna begraben liegenden geistigen Vaters der Italiener nicht wirklich gut.
Im Fegefeuer: Wenn die Magie des Tanzes jede Schwerkraft überwindet
Doch zum Glück gibt es nach dem „Inferno“ eine Pause, nach der sich die Rückkehr ins schnuckelige Logentheater, das denn auch seinerseits den Namen Dante Alighieri trägt, ausdrücklich lohnt. Das „Purgatorio“ hat Polunin also selbst vertanzt. Da herrscht zunächst ganz Abstraktion in gleißendem Weiß. Dann weisen die Videos des Noisy Head Studios auf kirchenähnliche Säulenhallen und einsame Felsformationen als Räume der Reinigung hin. Und Polunin tanzt sich unter eigener Anleitung gleichsam selbst in unendlichem Sehnen nach oben, immer himmelwärts. Da wird die Magie des Tanzes, die jede Schwerkraft überwindet, in diesem Ausnahmetänzer und seiner existenziellen Ausstrahlung ideal verwirklicht. Schade eigentlich, dass dieser Fegefeuer-Übergang so schnell vonstatten geht.
Ein Paradies im John Neumeier-Stil: Bitte mehr davon!
Doch auch im „Paradiso“ würde man gern länger verweilen, haben es doch die Zwillingsbrüder Jiří und Otto Bubenéček als einst gelehrige Schüler von John Neumeier szenisch gestaltet. Sauber, reduziert, hochästhetisch und garantiert kitschfrei geht es in diesem artifiziellen Paradies zu. Nur neun Säulen mit Männerköpfen (und Gott sei dank keine Videos) zieren die Bühne. Das Bewegungsvokabular ist dafür nun viel freier, ungebundener und gerade darin deutlich aussagekräftiger. Der Mann oder doch besser: der Mensch Polunin braucht hier keine weibliche Erlöserin und keinen Erlösergott, er bewerkstelligt seinen Büßer-Weg nach oben aus eigener Kraft seiner Erkenntnis. Davon möchte man am Ende mehr wissen. Und man wünscht diesem im zweiten Teil so starken Abend ein Weiterleben als Work in Progress mit einer dramaturgischen Schärfung des Ganzen, das dann freilich die nicht zuletzt zeitliche Gewichtung vom anfänglichen „Inferno“ auf das Ende hin verlagern sollte.
Ravenna Festival
Polunin: Dante Metànoia
Sergei Polunin (Tanz), Kemal Gekic, Kirill Richter (Klavier), Andjela Ninkovic (Stimme), Gianmarco Petrucci (Perkussion), Konstantin Binkin (Licht)
Inferno: Ross Freddie Ray (Choreographie), Miroslav Bako (Komposition), Yan Yanko (Video design), Vincenzo Spirito (Dantes Stimme)
Purgatorio: Sergei Polunin (Choreographie), Gregory Reveret (Komposition), Marcella Grimaux, Aaron Kaufman, Daniel Faubert – Noisy Head Studio (Video design), Noisy Head Studio and The Fury (Bühne)
Paradiso: Jiří Bubeníček (Choreographie), Kirill Richter (Komposition), Otto Bubeníček (Bühne)