Er beobachtet und belauscht, er tuschelt und kommentiert bitterböse. „Er“ ist hier freilich gar keine fies intrigierende männliche Hauptfigur, gemeint ist vielmehr der Chor des Grand Théâtre de Genève, der – szenisch enorm aufgewertet – zum heimlichen fünften Protagonisten neben den beiden Primadonnen Elisabetta und Sara und den Primi Uomini Roberto Devereux und Nottingham mutiert. Rein vokal verströmt der Chor am größten Opernhaus der Schweiz ohnehin Weltklasse: Die Homogenität und die Klangpotenz des Ensembles suchen ihresgleichen. Die Tatsache, dass Gaetano Donizetti in seinem „Roberto Devereux“ anno 1837 bereits die zentralen Chorszenen des jungen Verdi vorbildet (wie sie dann „Nabucco“, „I Lombardi“ und „Macbeth“ entscheidend prägen werden), nutzt das eng aufeinander eingespielte, klug sensible Regie-Duo Mariame Clément und Julia Hansen beherzt und führt das prachtvoll singende Kollektiv aus der statischen Staffage der Tableaux mitten hinein in die Glut des Dramas.
Die Verehrung einer alternden Frau für einen jugendlichen Liebhaber
Der Chor wird also gleichsam zur öffentlichen Meinung, ist nicht mehr nur braver Stichwortgeber für die emotionalen Umschwünge der Charaktere, er wird zum selbst zum durchaus politischen Charakter. Dazu benötigen Regisseurin Clément und Ausstatterin Hansen nur gar keine wohlfeilen Aktualisierungen, denn sie lesen das Stück durchaus demütig aus sich heraus, landen damit dennoch verblüffend im einem spannungsprallen Grenzbereich zwischen Historie und Gegenwart. Gleich mit der inszenierten Ouvertüre setzen sie wichtige Zeichen. Elisabetta – nachgebildet jener jungfräulichen Königin, die als Elisabeth I. anno 1603 knapp siebzigjährig kinderlos starb, die Dynastie der Tudors damit beendete und dennoch einem ganzen Zeitalter der Kunst, Musik und Literatur ihren Namen verlieh – begegnet in der für uns sichtbaren Vorgeschichte ihrem jugendlichen Günstling Roberto Devereux, dem sie als Zeichen ihrer Zuneigung einen kostbaren Ring verehrt.
Das Getuschel des Chores zum offensichtlich anrüchigen Akt der Leidenschaft spricht Bände, und wir meinen zu den stummen Gesten der Höflinge Sätze zu vernehmen wie: „Was wagt die Alte mit diesem Geschenk an den jungen Mann?!“ oder: „Die Königin macht sich lächerlich.“ Die Verehrung einer alternden Frau für einen jugendlichen Liebhaber, der sie seinerseits mitnichten liebt, ging zu Elisabeths Zeiten noch weniger als heute. Gemeine Gossip bleibt aber ja auch in der Gegenwart in ähnlichen Fällen nicht aus.
Verrückte Großmut und Güte
Die Inszenierung akzentuiert somit sogleich geschickt, wie öffentliche Wahrnehmung und Rollenzuschreibungen prominenter Personen einst und heute funktionieren. Und sie differenziert die Entstehung solcher Bilder vielgestaltig. Als einzige Figur ist Elisabetta ihrem historischen Vorbild nachgebildet: Eindeutig erkennbar ist die rote gelockte Perücke der ewigen Monarchin, deren hoher Haaransatz an die späten Jahre der Herrscherin erinnert. Ein Herbstwald als Ausblick aus ihrem Palazzo verdeutlicht, wie lange die besten Jahre der Königin doch längst verronnen sind. Hier lässt sich Elisabetta malen. Das Ergebnis ist eindeutig geschönt: Denn der Künstler hat an seiner Staffelei das Bildnis einer jungen Frau erschaffen.
Er präsentiert es huldvoll der eindeutig unehrlich Portraitierten, deren Altersdifferenz durch die Mittel der Inszenierung sogar eine doppelte ist: Als einzige authentisch nachgebildete Renaissance-Figur scheint sie wie aus einer anderen Welt zu kommen. Hinzu kommt der bestürzend berührend gespielte Altersunterschied zum Latin Lover Devereux, den die historische Elisabeth I. in einem überlieferten Brief davor warnt, ihre „verrückte Großmut und Güte“ zu anhaltenden „Untugenden“ zu nutzen. Die verbriefte Geschichte weiß: Devereux enttäuschte die Königin militärisch auf ganzer Linie, seine privaten Grenzüberschreitungen setzten ihr nicht minder zu.
Die junge französische Sopranistin Elsa Dreisig schafft eine atemlos machende Anverwandlung der alternden Königin.
Die Oper spitzt letztere in einem Quartett der Eifersucht zu: Roberto Devereux liebt Sara, die Herzogin von Nottingham, die mit dem Herzog ihrerseits in einer liebelosen Ehe leben muss. Musikdramatisches Feuer lässt Donizetti dementsprechend neben den grandiosen Chorszenen im besonderen in die Duetten zündeln, die in ihrer psychologischen Dichte wiederum auf Verdi vorausweisen. Ein Clou der Trilogie ist nun nicht nur das Engagement des durchgehenden Regieteams, das durch Rückblenden auf Elisabeths Jugend stimmige Verbindungen zwischen den Werken stiftet. Es ist auch die gleichbleibende Besetzung, an deren Spitze Elsa Dreisig als grandiose Sängerdarstellerin der Elisabetta steht.
Zu Beginn meint man kaum zu glauben, dass es Dreisig selbst ist, die hier die alte Elisabeth mimt: Ist das eine Schauspielerin in fortgeschrittenen Jahren? Die junge französische Sopranistin schafft eine atemlos machende Anverwandlung der Königin, die wir vom Herbst bis in den Winter ihres Lebens und die Abdankung hinein begleiten dürfen. Da erscheint uns am Ende sogar das mitunter schematische Textbuch des Salvatore Cammarano von hoher Qualität zu sein. In ihrer Aria finale bekennt Elisabetta stammelnd ihr tragisches doppeltes Scheitern: „non regno, non vivo“ – „ich herrsche nicht, ich lebe nicht“ und sieht klar in einer italienischen Alliteration, wie ihr „trono“ ihr nun zur „tomba“ wurde: An die Stelle des Throns tritt ihr Grab. Auch stimmlich hat sich Elsa Dreisig in Teil 3 der Trilogie das Vokabular des Belcanto perfekt für sich zurechtgelegt. Sie gibt keine kalte Technikerin des Schöngesangs, sondern lässt die langen Linien ihrer großen warmen Sopranstimme strömen, in die sie die Tricks des Belcanto mit den an- und abschwellenden Messa di Voce-Phrasen oder die stratosphärischen Spitzentöne ganz im Dienste eines wahrhaftigen Ausdrucks einsetzt.
Auch Stéphanie d’Oustrac ist nun ganz in „ihrem“ Belcanto angekommen, die Mezzosopranistin lässt dem Eros ihrer Partie freien Lauf, mischt Kopf- und Bruststimme geschickt ab, besticht mit einer reichen Farbpalette. Wie in den Vorjahren beweist Edgardo Rocha mit seinem stilfeinen Belcanto-Tenor nun in der Titelpartie, wie einschmeichelnde Italianità klingen kann. Nicola Alaimo als ungeliebter Ehemann Nottingham beweist mit seinem warm strömenden Edel-Bariton, wie nah sich Donizetti und Verdi in der Tudor-Tragödie doch kommen. Bis in die kleinen Partien hinein (Luca Bernard aus dem Jeune Ensemble als Lord Cecil oder Sebastià Peris aus dem Chor als ein Mitglied der Familie Nottingham) herrscht Belcanto-Exzellenz. Stefano Montanariam Pult des Orchestre de la Suisse Romande setzt auf einen knackigen, vorwärtsdrängenden, dramatisch dichten Donizetti.
Majestät als gesellschaftliches Konstrukt
Über allem und allen aber blickt uns Elisabetta, alias Elsa Dreisig, in die Augen. Dramaturgin Clara Pons hat in das bewährte Inszenierungskonzept eine spannende Neuerung in Form von behutsam eingesetzten Videos eingeführt. Damit setzt sie der Rolle des fast allgegenwärtigen Chores, der Majestät als gesellschaftliches Konstrukt offenbart, die andere, die private Seite der Monarchin gegenüber: In enorm ausgearbeiteter Mimik blickt uns von den Portalwänden das wandelnde Bildnis der Elisabetta an. Big Queen is watching you.
Ende Juni ist die gesamte Tudor-Trilogie in Genf als Zyklus zu erleben: „Anna Bolena“ (18. und 26. Juni), Maria Stuarda (20. und 28. Juni) und Roberto Devereux (23. und 30. Juni).
Grand Théâtre de Genève
Donizetti: Roberto Devereux
Stefano Montanari (Leitung), Mariame Clément (Regie), Julia Hansen (Bühne & Kostüme), Ulrik Gad (Licht), Clara Pons (Dramaturgie & Video), Mark Biggins (Chor), Elsa Dreisig, Stéphanie d’Oustrac, Edgardo Rocha, Nicola Alaimo, Luca Bernard, William Meinert, Ena Pongrac, Sebastià Peris, Chor des Grand Théâtre de Genève, Orchestre de la Suisse Romande