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Opern-Kritik: Theater Ulm – La Légende de Tristan

Tristan stirbt für sich allein

(Ulm,15.12.2022) Die französische Alternative zu Wagners „Tristan und Isolde“ des Orgelvirtuosen Charles Tournemire erlebt ihre späte, begeistert aufgenommene Uraufführung und zeigt eindrucksvoll: Weniger kann sehr wohl mehr sein.

vonRoland H. Dippel,

Die ersten zwei der drei Akte wirken stellenweise wie fragmentiert. Die Solisten singen – mal mit vollem, teils ohne Orchester – Rezitavisches und Arioses, was unvermittelt nebeneinander steht. Immer wieder erblühen Melodien von schon irrsinniger Schönheit, die der sich in seinem Orgelwerk stark mit Gregorianik beschäftigte Komponist Charles Tournemire (1870-1939) allerdings nicht weiterentwickelte. Was für ein Stück. Fast 100 Jahre nach ihrer Entstehung brachte das Theater Ulm die Uraufführung der Oper „La Légende de Tristan“ des französischen Orgelvirtuosen und Symphonikers Charles Tournemire heraus. Den Text entwickelte Albert Pauphilet (1884-1948) nach Joseph Bédiers Roman-Adaption „Tristan und Isolde“ (1900) – ein Versuch mehr im französischen Musiktheater, aus dem Schatten von Wagners übermächtigem Musikdrama herauszutreten. Das Publikum war von Sängern, Orchester, Chor und Szene begeistert.

Orchestersprache auf dem richtigen Level

In dieser „Tristan“-Oper fließen unterschiedlichste Geistesströmungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zusammen: Mystizismus, letzte Regungen des Symbolismus, das Mittelalter als Inspirationsmoment wie für die Präraffaeliten und die vielfachen Neuansätze im französischen Musiktheater – Dukas‘ sagenhafter Emanzipationsappell „Ariane et Barbe-Bleue“, Albéric Magnards Esoterik in „Guercoeur“ und die versachlichenden Tendenzen der jungen Generation um Darius Milhaud. GMD Felix Bender entscheidet sich mit dem Philharmonischen Orchester der Stadt Ulm für eine klare, deutliche Wiedergabe. Das ist richtig. Denn die Poesie muss nicht entwickelt werden, sondern spricht direkt aus Tournemires Musik. Zu viel Weichheit, zu viel kantabler Lyrizismus unter den Stimmen wäre der berüchtigte Kick zu viel. Mit Benders pointierter Deutung kann das Werk atmen und gemäßigt, also in Schönheit blühen.

Szenenbild aus „La Légende de Tristan“ am Theater Ulm
Szenenbild aus „La Légende de Tristan“ am Theater Ulm

Dieses Weniger erweist sich als starkes Plus ohne Ermüdungserscheinungen bis zum dritten Akt, wo sich Tournemire mehr Spätromantik bei gleichzeitiger „Parsifal“-Askese erlaubt. Erfordert viel vom Orchester. Klarinetten-, Oboen-, Horn- und auch Streichersoli gehören zu den dominierenden Farben, ertönen oft wie blank und dulden deshalb nicht die geringste Unebenheit. Diese würden den poetischen Schein der Musik und des Dramas empfindlich beschädigen. Das Orchester macht daraus einen beeindruckenden Leistungsnachweis nach dem von Michael Weiger erstellten Aufführungsmaterial für die ursprünglich im Corona-Jahr 2020 angesetzte Produktion.

Poesie und Nachkriegszeit

Intendant Kay Metzger und mehr noch der Ausstatter Michael Heinrich haben dafür eine Entstehungszeit, Metaphorik und Poesie vereinigende Bildwelt geschaffen. Einheitsraum ist eine riesige Kapitänskajüte mit hohen Bücherwänden, er wird in Rahmenszenen ein Lazarett für verwundete Soldaten, die unmittelbare Realität nach dem Ersten Weltkrieg. Dahinter schlagen turmhohe Meereswellen, vorne werden die Auswirkungen des Liebestrankes immer dringlicher. Iseut ist zuerst Krankenschwester, bevor Marc zum Kapitän wird und das archaische Drama seinen Gang nimmt. Da Tournemires Musik nicht treibt und sich, schon nahe der neuen Sachlichkeit, kaum Exzesse will, wirkt der Mittelteil der Oper fast episch.

Szenenbild aus „La Légende de Tristan“ am Theater Ulm
Szenenbild aus „La Légende de Tristan“ am Theater Ulm

Im ersten Akt sieht man, was Wagners Isolde wortreich berichtet. Tristan hat Morholt erschlagen und zieht aus, einen Drachen zu töten. Iseut pflegt den verwundeten Helden. Anders als bei Wagner setzt der Liebestrank aber nicht beider verdrängte Gefühle frei, sondern ist ein ganz dummer Zufall mit fatalen Auswirkungen. Metzger lässt Tristan und Iseut nach Genuss des cassisfarbenen Getränks erst verlegen und ratlos herumsitzen. Dann trifft beide die Wirkung mit voller Wucht. Bei Tournemire gibt es danach eine ganz andere psychologische Verkaufskurve als bei Wagner, bei dem Testosteron und Amphetamine bis zum Schluss aus der Partitur stürzen. Der Intrigant ist hier kein Melot, sondern der melodramatisch aufgeheizte Prosasprechende „Zwerg“ Frocin (Joshua Spinik).

Vom Ende der Liebe

Schon die mittelalterlichen Autoren waren sich ungewiss, ob der Liebestrank von endlicher, sich abschwächender Wirkung oder unbegrenzter Dauer ist. Bei Tournemire erleben wir im dritten Akt mit dramaturgischer Priorisierung Tristans das Ende und die Transzendenz seiner großen Liebe. Tristans Existenz versinkt dort, „wo jeder hehre Traum sich von Wirklichkeit und Schmerz löst, wo alle Schönheit aufblüht und die Seele im höchsten Flug, im Tod die Vollkommenheit erreicht.“ Die Oper endet also mit Tristans Liebestod. Bei Tournemire geleitet ihn ein Chorus Mysticus ins Jenseits.

Szenenbild aus „La Légende de Tristan“ am Theater Ulm
Szenenbild aus „La Légende de Tristan“ am Theater Ulm

Tournemires „Tristan“ ist auch eine Choroper – der von Hendrik Haas und Nikolaus Henseler einstudierte Opern- und Extrachor ist fast immer auf und neben der Bühne und glänzt in wirkungsvollen Aufgaben. Die in der Ulmer Inszenierung so nicht zu sehenden Regie- und Bildbeschreibungen Albert Pauphilets haben dunkles, archaisches Poesie-Potenzial zwischen Maeterlinck und Cocteau, die Verse sind leicht. Das muss auch gesungen sein, vor allem in den beiden umfangreichen Hauptpartien. Dae-Hee-Shin ist ein Marc, dem das Fragen in der hell-dunklen Stimme steht. Zu kantabler Entfaltung kommt sein hier leicht sprödes Material nicht, was an Tournemire liegt. Obwohl er keinen großen Klagegesang hat wie Wagners Marke, ist er als von Eifer- und Ehrsucht getriebener Charakter weitaus mehr präsent. I Chiao Shih gibt mit prächtig dunklem Material eine mehr dominante als dienende Brangien ohne Leidensmiene.

Tristan führt noch mehr als Iseut. Für Tournemires Tristan braucht man die Kondition eines Wagner-Tenors, Nachdruck im Piano sowie ein sensibles Gespür für die Ausdruckswerte zwischen Gesang und Text wie für Debussys „Pelléas“. Diese Qualitäten müssen den verräterisch filigranen wie machtvollen Orchesterwellen standhalten. Markus Francke setzt zuerst auf seine deklamatorische Begabung, zeigt mit Verdichtung der Liebeshandlung mehr Schmelz und mobilisiert am Ende prachtvolle, nicht auftrumpfende Kraftreserven. Sympathisch, aber gebrochen legt er die von Tournemire als Pilger mit religiösen Zügen eingeführte Figur an und meistert damit den gefährlichen Kippmoment, dass es nicht nur um Erotik, sondern immer auch um die religiöse Symbolik einer Lebensreise geht.

Szenenbild aus „La Légende de Tristan“ am Theater Ulm
Szenenbild aus „La Légende de Tristan“ am Theater Ulm

Sopran-Dramatik auf Französisch

Einen „dramatischen Sopran“ fordert Tournemire für Iseut, was im Französischen etwas anderes meint als im deutschen Opernkontext. Iseut steht in der Reihe von Faures „Penélope“ und Dukas‘„Ariane“. Powerspitzen sind zwar gefordert, aber bei weitem nicht so wichtig wie Samttöne in mittleren Dynamik-Bereichen, die durch das Orchester dringen und dabei weich bleiben. An De Ridder klingt jung und gesund. Sie kommt mit den Auswirkungen des Liebestranks weitaus besser zurecht als Tristan und ist darstellerisch als Lazarettschwester, Königin und Liebende von gewinnender Präsenz. Dieses Paar lebt durch die Liebe und kämpft mit dieser. Eine beeindruckende Leistung für eine Oper, deren zutiefst individuelle und nicht immer einfache Klangsprache eine starke Herausforderung bedeutet. In Ulm hörte man das Schwelgen und die Fragezeichen dahinter. Ein faszinierender Abend.

Theater Ulm
Tournemire: La Légende de Tristan

Felix Bender (Leitung), Kay Metzger (Regie), Michael Heinrich (Bühne & Kostüme), Johannes Grebing (Licht), Hendrik Haas (Chor), Benjamin Künzel (Dramaturgie), An De Ridder, Markus Francke, Dae-Hee Shin, I Chiao Shih, Joshua Spink, Statisterie des Theaters Ulm, Opern- und Extrachor des Theaters Ulm, Das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm

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