Schon im Vorfeld hörte man viel über das Ende im ewigen Eis und von der vereisten Gesellschaft, mit der dieses megacoole Finale des neuen „Ring des Nibelungen“ ins Schlittern kommt. Gewiss wäre das als gut gehütete Überraschung für das Publikum noch überwältigender gewesen. Mit einer Viertelstunde Schlussapplaus endete die Premiere der „Götterdämmerung“ an der Oper Chemnitz. Vier Regisseurinnen widmeten sich den vier Teilen von Richard Wagners Bühnenfestspiel, das in nur zehn Monaten komplett zum Chemnitzer Stadtjubiläum 875 Jahre herauskam.
Elisabeth Stöppler hätte aufgrund der verzahnten Produktionsabläufe als einzige darauf reagieren können, was sich ihre Kolleginnen Verena Stoiber („Rheingold“), Monique Wagemakers („Walküre“) und Sabine Hartmannshenn („Siegfried) einfallen ließen. Aber sie tat es, anders als Tobias Kratzer am Staatstheater Karlsruhe als wiederum letzter von vier „Ring“-Regisseuren, gerade nicht. Es war auch nicht planbar, dass genau Stöpplers Kerngedanken für diesen perversen Genre-Flirt, in dem Wagner seine spezifische Form des Musikdramas mit der großen Oper kreuzte, während der „Ring“-Probenzeiten im langen trockenen Sommer 2018 zu Hauptthemen gesellschaftlicher Diskurse wurden: Klimawandel und soziale Kälte. Die ersten kompletten Zyklen gibt es nun im Januar, zu Ostern und Pfingsten 2019.
Eisscholle und Überzivilisation
Waltrautes versprochene Fallschirmlandung auf dem Walkürenfelsen verschwand zwar im Nebel, dafür gelingt Anne Schuldt die lange Erzählung und Auseinandersetzung mit der Halbschwester Brünnhilde voll intensiver Bravour. Nach Siegfrieds Tod verschmelzen Brünnhildes Scholle und die von Annika Haller gebaute Edel-Lounge der Gibichungen mit ständigem Ressourcen-Missbrauch drinnen und dem Technik-Verhau draußen zu einem einzigen Schauplatz. Die in der Gibichungen-Sphäre lustvoll beschworene Endzeitstimmung könnte leicht beliebig wirken, selbst wenn sie sich so farbenfroh gibt wie Gesine Völlms knallbunter Klamotten-Wahnsinn für den unter Stefan Bilz› Leitung klangschönen Opernchor. Doch was Elisabeth Stöppler spielen lässt, greift an Nerven und Gemüt.
Götterdämmerung: Packendes Endspiel
Die länger als vier Stunden Musikdauer gehaltene und zum Schluss noch beklemmend gesteigerte Deutung packt durch intensive Personenführung und eine beglückende Ensembleleistung. Stéphanie Müthers Wechsel vom Mezzo zum hochdramatischen Sopran ist mit diesem Brünnhilde-Debüt auf dem allerbesten Weg, und Daniel Kirch liegt der hier jämmerlich von Drogen zerfressene „Götterdämmerung“-Siegfried weitaus besser als der des zweiten „Ring“-Tages. Sie und alle Sängerdarsteller sind als Individuen wie im Zusammenspiel ein Glücksfall par excellence: Der Rumäne Marius Boloş leidet als Hagen mehr als dass er intrigiert. Ein aschgrauer Prachtkerl ist dieser Nachtalben-Sohn, den Gutrune erst von sich stößt und später an der Leiche Siegfrieds abknallt.
Cornelia Ptassek, die diesen oft undankbaren Part zu einer mit Souveränität ersungenen und gespielten Hauptrolle macht, kniet am Ende während Wagners Erlösungsmotiv vor dem Kreis der mythischen Mutter- und Schwesterfiguren, die nichts gegen den Untergang ausrichten konnten und Gutrune dann wie eine begnadigte Sünderin in ihre Mitte holen.
Die Rückkehr der zerstörten Schwestern
Aus dem apokalyptischen Schnee, nach der emotionalen Eiszeit des Anthropozäns kommen sie also zurück: Die Urmutter Erda mit ihrer Tochter Brünnhilde, den im Eis ihr Wissen verlierenden Nornen und den zu Müll-Aliens degenerierten Rheintöchtern. Am Ende rücken doch noch die Frauen in den Fokus. Nicht als Retterinnen vor bodenlos-grenzwertigen Männertaten, denn das wäre zu eingleisig.
Aber ihre Rückkehr lässt fragen, wie es nach dem Ende dieser unrettbar kaputten Zivilisation und der missbrauchten Kinder Siegfried, Brünnhilde, Hagen weitergehen könnte. Pierre-Yves Pruvot als ganz und gar haltloser Gunther und Jukka Rasilainen als Alberich, der seinen in bitterer Einsamkeit schluchzenden Sohn Hagen zum rächenden Vollstrecker instrumentalisiert, machen den glänzenden Eindruck perfekt.
Siegfried, das Drogenwrack
Stöppler braucht keine Smartphones zur Darstellung kommunikativer Leere. Dafür gibt es andere maßlos traurige Bilder: An der Bar in der Gibichungenhalle wird immer getrunken, denn die Ödnis des totalen Reichtums wäre sonst nicht ertragbar. Gutrune erholt sich vom Champagner-Dauerdusel auf dem Eisbärfell, das Siegfried sich überzieht, wenn er zur mit Skandal endenden Hochzeit eilt. Das ist der letzte Scherz des Helden, der mit dem Brünnhildes Ross ersetzenden Rodelschlitten Grane angebraust kommt und dann in nur 48 Stunden zum Drogenwrack abstürzt. Denn Hagens und Gutrunes Zaubertränke machen nicht nur extrem rattig, sondern auch süchtig. Zur Brautentführung rücken Siegfried und Gunther zu zweit an, gut vermummt in sündteuren Trekking-Anoraks und mit einer exklusiven Sportbrille des Designer-Labels Tarnhelm. Meisterhaft sind die Irritationen, die nicht nur Brünnhilde, sondern auch das Publikum täuschen, wenn Siegfrieds verstellte Stimme aus faktisch zwei Männern tönt.
Am ergreifendsten die Trauermusik: Siegfried, von Hagens Rückenschuss tödlich getroffen, halluziniert sich nach Walhall, wo ihn Brünnhilde vor einer Halde mit nackten Helden wie in ihrem früheren Leben als Walküre salbt und pflegt. Männlichen Trug und weibliche Wut lädt Stöppler mit pfeilgenauer Treffsicherheit und Detailschärfe auf. Die bunte Gruppe, als die der Chor zur Hochzeitsparty tobt, führt Götter und Traditionen nur noch als Worthülsen mit sich. Erst am Ende besinnen sich also Siegfried und Gutrune auf ihre früheren kulturellen Prägungen. Die letzten Worte „Zurück vom Ring!“ tönen aus dem Off, Hagen ist da längst tot.
Musikalische Hochspannung
Und was für einen sagenhafter Partner hat Elisabeth Stöppler am Pult! Unter Guillermo García Calvo singt es aus der Robert-Schumann-Philharmonie mit jedem Bassklarinetten-Solo, jedem Tuba-Ton, jeder chromatischem Streicherlinie. Kein Sänger muss Angst haben vor Schweiß treibenden Orchestereruptionen. Guillermo García Calvo lässt sich Zeit und baut gerade dadurch einen immensen Spannungsdruck auf. Seine Wagner-Farben sind wie edle Orchideen unter dunkelgrauer Gaze. Das hat genüsslich qualvolle Dimensionen wie eine lyrische Tragödie und steigert sich an den pompösen Stellen zu fahler Großartigkeit: Grausam, zutiefst bewegend, mit bohrender Intensität. Den Chemnitzer „Ring“ sollte man erleben, mit allen Wonnen und Widersprüchen!
Theater Chemnitz
Wagner: Götterdämmerung
Guillermo García Calvo (Leitung), Elisabeth Stöppler (Regie), Annika Haller (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme) Stefan Bilz (Chor), Daniel Kirch (Siegfried), Gunther Pierre-Yves Pruvot (Gunther), Jukka Rasilainen (Alberich), Marius Boloş (Hagen), Stéphanie Müther (Brünnhilde), Cornelia Ptassek (Gutrune & 3. Norn), Anne Schuldt (Waltraute), Anja Schlosser (1. Norn), Sylvia Rena Ziegler (2. Norn & Wellgunde), Guibee Yang (Woglinde), Sophia Maeno (Floßhilde), Opernchor und Chorgäste der Oper Chemnitz, Robert-Schumann-Philharmonie
Weitere Termine: 22.12.2018, 26.1., 22.4., 10.6..2019
„Ring“-Zyklen 2019 am Theater Chemnitz:
Januar 2019:
Das Rheingold: 5.1.2019, 18:00 Uhr
Die Walküre: 12.1.2019, 16:00 Uhr
Siegfried: 19.1.2019, 16:00 Uhr
Götterdämmerung: 26.1.2019, 16:00 Uhr
Ostern 2019:
Das Rheingold: 18.4.2019 (Gründonnerstag), 18:00 Uhr
Die Walküre: 19.4.2019 (Karfreitag), 16:00 Uhr
Siegfried: 20.4.2019 (Ostersamstag), 16:00 Uhr
Götterdämmerung: 22.4.2019 (Ostermontag), 16:00 Uhr
Pfingsten 2019:
Das Rheingold: 30.5.2019 (Himmelfahrt), 18:00 Uhr
Die Walküre: 1.6.2019 (Samstag), 16:00 Uhr
Siegfried: 8.6.2019 (Pfingstsamstag), 16:00 Uhr
Götterdämmerung: 10.6.2019 (Pfingstmontag), 16:00 Uhr