Wedekind hatte in seinen beiden „Lulu“-Dramen die „Urgestalt des Weibes“ porträtieren wollen. Knapp vierzig Jahre später legte Alban Berg seiner unvollendet gebliebenen Partitur eine der Lulu-Figur zugeordnete Zwölftonreihe zu Grunde. Am Theater Bremen hat Regisseur Marco Štorman die zentrale Positionierung der Titelheldin nun in den Mittelpunkt seines Ansatzes gerückt. Frauke Löffel hat für Štorman ein Spiegelkabinett, beziehungsweise ein begehbares Kaleidoskop errichtet. Lulu ist nun überall und nirgendwo. Die gängige Lesart, dass sie Projektionsfläche ist und zugleich reflektierend zurück strahlt, in welcher Weise sie begehrt wird und welche seelischen Abgründe ihr Gegenüber zu verbergen versucht, ist so äußerst konsequent realisiert.
Lulu – Alles, was zu sehen ist, ist Projektion
Dass dieser Ansatz gelingt, verdankt sich vor allem der Leistung von Marysol Schalit, die seit 2011 zum Ensemble des Theaters Bremen gehört. Selten wirkt eine Sängerschauspielerin in einer derart anspruchsvollen Rolle so jung wie sie. Als sie auftritt, wirkt Schalits Lulu geradezu kindlich, und sofort sensibilisiert sie ihr Publikum mit ihrer Ausstrahlung dafür, dass alle im Zuschauerraum Voyeure sind. In Übereinstimmung mit dem Regiekonzept gibt Schalit so gut wie nichts von Lulu preis. Alles, was zu sehen ist, ist Projektion.
Lulus Freude daran, die Dinge beim Namen zu nennen und Männer mit ihren emotionalen Realitäten zu konfrontieren, gleicht bei Schalit einer zunächst noch infantilen Begeisterung für Katastrophisches. Denn sie weiß darum, dass ihr Gegenüber unter der Last der Selbstkonfrontation jederzeit zusammenbrechen und in einen Wutanfall ausbrechen kann, dem sie möglicherweise selbst zum Opfer fällt. Die schlanke Stimme Schalits ist für die stark rezitativisch angelegte Partie bestens geeignet. Sie hat zwar kein riesiges Organ, die Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Hartmut Keil lassen ihr aber mit einem gut ausdifferenzierten Klang genug Raum.
Ein existenzielles Verfallensein
In Štormans Deutung sind alle männlichen Figuren der Oper, inklusive der lesbischen Gräfin Geschwitz, Varianten des Charakters und Begehrens von Dr. Schön. Gast-Bassbariton Claudio Otelli bot in dieser Partie nicht nur sängerisch eine fulminante Leistung. In seinem erschütternd wahrhaftigen Spiel zeigte er das existenzielle und selbstvernichtende Verfallensein des Dr. Schön. Nach seiner Wiederkehr als Jack the Ripper, dessen Ermordung Lulus zumindest nicht szenisch realisiert wird, durchleidet er in einem Panikanfall die völlige Einsamkeit. Davon war er beim Schlussapplaus noch so sehr gezeichnet, dass er sich kaum verbeugen konnte.
Auch für die Partie des Alwa hat das Theater Bremen einen tollen Sänger engagiert, der dem Hause schon seit der Spielzeit 2014/15 verbunden ist. Tenor Chris Lysack sang die Premiere trotz Erkrankung, die man ihm nicht weiter anhörte. Außerdem ist Birger Radde aus dem Ensemble des Theaters Bremen hervorzuheben, der den Tierbändiger und den Athleten gab. Mit seinem vollen Bariton spielte er die kraftstrotzende, plumpe Männlichkeit der Figur mit Lust aus. Nathalie Mittelbach legte die Gräfin Geschwitz weniger zerbrechlich und pathologisch-zart an, als das sonst häufig geschieht. Wie sehr ihre Hilfsbereitschaft ins Autoaggressive neigt, ist ihr in dieser Interpretation deutlich bewusst und eine aktive Entscheidung.
Die neue Fassung für Bremen
Wie jedes Haus musste sich auch Bremen der Fassungsfrage des „Lulu“-Fragments stellen. Die hiesige Lösung bestand in einem Kompositionsauftrag an Detlef Heusinger, der in Bremen bereits 1989 seine Oper „Der Turm“ uraufgeführt hat. Er holte für den dritten Akt das SWR Experimentalstudio auf die Bühne und erweiterte das Orchester um ein Theremin, E-Gitarre, Synthesizer und Hammondorgel. Das bedeutet einen fundamentalen Einschnitt in das Klangbild des Werkes nach der zweiten Pause, in das man sich jedoch schnell hineinhört. Für das Theremin mit seinen weinerlichen, vibrierenden elektrischen Tönen hat Heusinger zahlreiche melodische Passagen eingerichtet, die sich wiederholt wie eine zusätzliche Gesangspartie in die Partitur einfügen.
Die Inszenierung verzichtet auf die Darstellung von Mord und Totschlag. Doch obwohl das viele Blut nur vor dem inneren Auge herab läuft, wird die Lulu nicht minder schaurig. Ob die Protagonistin am Ende nun eigentlich stirbt oder nicht, bleibt offen. Zumindest tritt Schalit-Lulu, umhüllt von einer unklar-entrückten Aura, zum Finale äußerlich unversehrt an den Bühnenrand. Bis das Licht ausgeht, ist sie eine Leerstelle – und bleibt subjektive Betrachtung.
Theater Bremen
Berg: Lulu
Hartmut Keil (Leitung), Marco Štorman (Regie), Frauke Löffel (Bühne), Sara Schwartz (Kostüme), Christian Kemmetmüller (Licht), Isabelle Becker (Dramaturgie), Alexandra Morales (Choreografie), Marysol Schalit (Lulu), Nathalie Mittelbach (Gräfin Geschwitz), Ulrike Mayer (Eine Garderobiere, Ein Gymnasiast & Ein Groom), Claudio Otelli (Dr. Schön & Jack the Ripper), Chris Lysack (Alwa), Christian-Andreas Engelhardt (Der Prinz, Ein Kammerdiener & Der Marquis), Hyojong Kim (Der Maler & Prinz von Uahubee), Loren Lang (Schigolch), Birger Radde (Ein Tierbändiger & Ridrigo, ein Athlet), Stephen Clark (Der Theaterdirektor & Der Bankier), Julia Huntgeburth (Eine Fünfzehnjährige), Gabriele Wunderer (Ihre Mutter), Martina Parkes (Eine Kunstgewerblerin), Wolfgang von Borries (Ein Journalist), Jörg Sändig (Ein Diener), Bremer Philharmoniker, Carolina Eyck (Theremin), Jürgen Ruck (E-Gitarre), Ernst Surberg (Klavier), Detlef Heusinger (Neufassung des 3. Aktes)