Menschlich, Allzumenschliches und hochfliegend Philosophisch-Politisches fließen in seiner Biografie gar inniglich zusammen. Diese Melange des Karl Marx kurios oder komisch zu nennen, gleicht noch einer gelinden Untertreibung. Während der Namensgeber des Marxismus (der von sich in hübbscher dialektischer Brechung behauptete, selbst gar kein Marxist zu sein!) gerade mühevoll an der Begründung einer Diktatur des Proletariats bastelte, verlor er regelmäßig gegen seinen Haushälterin im Schach. Der Mann dachte groß, war aber eine taktische Niete, zeugte Helene Demuth indes erfolgreich ein uneheliches Kind.
Gleichwohl war Marxens Ehe mit der begüterten Jenny von Westphalen von echter Liebe durchdrungen. Die vier Jahre ältere Dame aus gutem Hause teilte seine Ideale trotz ihrer Herkunft, sie war an der Veröffentlichung seiner Schriften entscheidend beteiligt. Die Ménage à trois in ihrem Londoner Haushalt machte der Gattin zwar schwer zu schaffen, dennoch hielten die beiden, besser: alle drei, eisern zusammen.
Töchterchen Tussy verliebte sich dann ausgerechnet in den unbekannten Halbbruder Freddy, den sie zunächst für einen preußischen Spion hält und dessen familiäre Herkunft geheimgehalten werden muss, damit das Image vom Anstand der Arbeiterklasse und ihres Erfinders tunlichst nicht leidet. Chronische Geldsorgen herrschten im Hause Marx, just die potentiellen Herrscher der Zukunft, die Arbeiterklasse, räumten der Familie dann die Bude aus. Jennys Tafelsilber brachte Karl kurz darauf ohne ihre Kenntnis zum Pfandleier.
Aber etwas fehlt der Szene: sekundengenau getimter Slapstick, lustvoll gebaute Überraschungsmomente
What a mess! Und welch eine Steilvorlage für eine Komische Oper, die nun in Bonn aus der Taufe gehoben wurde. Der Brite Jonathan Dove hat sie komponiert, der Deutsche Jürgen R. Weber hat das Szenario ersonnen, das wiederum der Engländer Charles Hart in das englischsprachige Libretto übersetzte. Weber hat die Uraufführung nun auch in Szene gesetzt – eine Personalunion, die sich freilich als unglücklich erwies. Denn der hoch inspirierte Witz – im englischen Begriff des „wit“ schwingt die entscheidende Ebene des geistvoll verschmitzten Humors viel deutlicher mit als im Deutschen – des Komponisten wird vom Librettisten-Regisseur nur allzu betulich bedient.
Seine Eins-zu-Eins-Inszenierung des eigenen Textbuchs lässt jegliche Doppelbödigkeit vermissen. Sekundengenau getimter Slapstick, lustvoll gebaute Überraschungsmomente, ja die auf der Hand liegende Situationskomik des furiosen Durcheinanders im Hause Marx sieht man an diesem Abend kaum.
Marx in London: Viel Spaß für die Ohren
Aber man bekommt all dies zu hören. Und das macht Spaß, viel Spaß. Nur wünscht man Jonathan Doves Oper nach dieser Premiere einen deutlich respektloseren Regie-Zugriff, der Bezügen zur Gegenwart nicht ausweicht und die komische Dramatik des Stoffs nicht in einem braven Sherlock-Holmes-Historismus verniedlicht. Der Regie fehlt schlichtweg eine Haltung jenseits der naturalistischen Bebilderung des Geschehens.
Die Maskenabteilung der Bonner Oper hat immerhin ganze Arbeit geleistet. Bariton Mark Morouse wird da zum perfekten Karl Marx mit Rauschebart verwandelt. Nun könnte die freudvolle Verwurstung des im realen Leben grandios scheiternden Intellektuellen starten. Dem ist aber nicht so.
Jonathan Dove weiß genau, wie Mozart, wie Rossini und wie Verdi ihre Komödien musikalisch gebaut haben
Halten wir uns also an den musikimmanenten Humor. Und mit dessen Mechanismen kennt sich Jonathan Dove bestens aus. Er weiß genau, wie Mozart, wie Rossini und wie Verdi ihre Komödien musikalisch konstruiert haben. Und eifert den alten Kollegen mit handwerklicher Meisterschaft nach. Dabei erinnert bereits die Wahl der Stimmfächer und deren Charakteristika an die gute alte Buffa-Tradition. Die von der prallen, natürlich mit urmütterlicher Altstimme orgelnden Haushälterin Helene (Ceri Williams) betrogene Gattin (Yannik-Muriel Noah) darf ganz wunderbar mit dramatischem Sopran keifen. Tochter Tussy (Marie Heeschen) ist ganz die emanzipatorisch aufbegehrende Koloraturen-Colombina.
Der aus Italien stammende ideologische Mitbewerber Marxens, Signor Melanzane (Jonghoon You), ist eine herrliche Tenorkarikatur, der wie Cavaradossi gegen die ihn ausschaltenden „Maledetti“ ansingt. Und das unbewusst inzestuöse Liebespaar Tussy und Freddy (Christian Georg) gleicht in seinem Herz-Schmerz-Duett geradewegs einer Wiedergeburt der lyrisch liebenden Nannetta und Fenton aus Verdis „Falstaff“.
Die Musik hat Charme, die Partitur lächelt
Sodann hat Jonathan Dove sehr genau verinnerlicht, wie sehr der Komödien-Drive von rhythmischer Präzision lebt, aus der situativer Humor immer wieder punktgenau entstehen kann. Dove schreibt – ganz klassisch wohlerzogen – Arien, Duette und Ensemble-Szenen, die einfach gut gebaut sind. Seine Musik hat Charme, die Partitur lächelt. Der Brite desavouiert die Marx-Sippe nicht, er zeigt ihre menschlichen Unzulänglichkeiten (übrigens mit ausgeprägter Sängerfreundlichkeit) jenseits eines moralisierenden Gut und Böse einfühlsam und sogar liebevoll. Stilistisch findet Dove die ideale Mitte zwischen Benjamin Brittens feen-und federleichtem, stets zwischen den Zeilen auch erotisch flimmerndem „Midsummer Night’s Dream“, einem spätromantischem Idiom (das zu Marxens Lebenszeit passt, die schließlich exakt zu jener eines Richard Wagner parallel lief) und einer direkt ins Ohr gehenden Musical-Sprache, die fast zu schön ist, um wahr zu sein.
Avantgarde-Bruitismen muss bei Dove niemand fürchten. Über die deutschen Diskurse des Komponierens mit ihrem Faseln vom „Materialstand“ nach Adorno & Co. kann Dove nur verschmitzt lachen. Selbst C-Dur ist für ihn erneut eine erlaubte Tonart – und eben so gar nicht verbraucht.
Das Beethoven Orchester Bonn unter David Parry ist mit lukullischer Klangfreude bei der Sache
Jonathan Dove traut sich was. Und wird von einem lustvollen Ensemble bestätigt. Das Beethoven Orchester Bonn unter David Parry ist mit lukullischer Klangfreude bei der Sache, der Chor des Theater Bonn singt prachtvoll. Nur am subversiven szenischen Subtext hapert es eben noch an diesem vergnüglichen Abend.
Den muss und sollte nun das nächste Opernhaus wagen, das sich dieser Opernkomödie des 21. Jahrhunderts annimmt. Die Zeiten sind schließlich ernst, da dürfen wir das Lachen über die Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle von einst und heute, mögen sie nun Kapitalismus oder Kommunismus heißen, durchaus wieder lernen.
Theater Bonn
Dove: Marx in London
David Parry (Leitung), Jürgen R. Weber (Regie), Hank Irwin Kittel (Ausstattung), Friedel Grass (Licht), Mark Morouse, Yannick-Muriel Noah, Marie Heeschen, Christian Georg, Ceri Williams, Johannes Mertes, David Fischer, Boyan Di, Jonghoon You, Enrico Döring, Algis Lunskis, Egbert Herold, Miljan Milovic, Beethoven Orchester Bonn