„Soldaten sind Mörder“, befand einst Kurt Tucholsky. Antifaschisten und Pazifisten machten sich den Satz zu eigen. Bernd Alois Zimmermann, vor 100 Jahren geboren, wurde selbst in den Zweiten Weltkrieg eingezogen, schrieb sein musiktheatralisches opus summum just über sie: „Die Soldaten“. Doch ein allzu schlichtes, demonstratives Anklagen gegen den Stand, der das Töten professionalisiert, hatte der Kölner Komponist mitnichten im Sinn. Er moralisierte nicht, gab sich, nur wenige Jahre vor den Umbruchzeiten der 68er, gar nicht politisch korrekt: Er unterschied seine Figuren nicht in die Guten und die Bösen. Bei ihm werden die Täter selbst zu Opfern. Er zielte nicht auf den historischen Einzelfall, sondern auf die erschütterten Grundfesten der menschlichen Existenz.
Deshalb erschüttert uns seine Oper bis heute, obwohl der konkrete geschichtliche Hintergrund (das Heiratsverbot von in Garnisonsstädten lebenden Soldaten), den die Komödie (sic!) des Jakob Michael Reinhold Lenz als Vorlage für die Jahrhundertoper lieferte, uns heute noch ferner zu sein scheint als zur Lebenszeit des Komponisten. Zu Zimmermanns rundem Geburtstag wird nun vielerorts seiner Musik gedacht, die von ihrer drastisch bruitistischen Frische so gar nichts eingebüßt hat.
„Die Soldaten“ ganz ohne Soldaten
Peter Konwitschny würde nun seinem Ruf als unbequemer Hellsichtiger der Opernregie nicht gerecht, würde er „Die Soldaten“ auf naheliegende Weise bedienen, uns mit Betroffenheitskitsch gutmenschelnd das Böse im Manne vorführen. Also gibt es bei Konwitschny gar keine marodierenden, mordenden, vergewaltigenden Horden, außer ein paar Polizisten sogar überhaupt keine Männer in Uniform.
Seine Beobachtung: Soldaten sind aus unserem Straßen- und Lebensbild verschwunden, sie taugen nicht zur Dekoration einer Handlung, die uns etwas angehen soll. Die Folge: Er zeigt „Die Soldaten“ ohne Soldaten. Die heutige Entsprechung sieht er in den in graue Einheitsanzüge gesteckten, gleichgeschalteten Geschäftsmännern, in Schreibtischtätern des Kapitalismus, in Dutzendmenschen, die Börsenkurse manipulieren, Befehle ausführen und Lieblosigkeit verbreiten. Wirtschaftssoldaten eben.
Da ist er also wieder, der linke Furor des Regisseurs, der das Theater noch als Verhandlungsort des Politischen sieht und sich seine stille Hoffnung auf eine bessere, weil liebevollere Welt trotz allen Kulturpessimismus nicht nehmen lässt.
Schrundiger Schrei verwundeter Seelen
Eingedenk der Gewalt und Stärke von Zimmermanns Musik, die im Vorspiel bereits die Apokalypse als schrundigen Schrei verwundeter Seelen zum Ausdruck bringt, ja damit bereits das grausige Ende der Marie antizipiert, nimmt der Regisseur sich zurück, entdeckt eine neue Einfachheit des linearen Erzählens, das in den dem Filmschnitt abgeschauten schnellen Szenenwechseln meisterhaft geführte heutige Menschen zeigt, ohne dabei den Subtext der Entstehungszeit der Oper oder den historischen Kontext des Stoffs als Metaebenen mitschwingen zu lassen.
Sich erinnernd, dass Lenz den Stoff einst als Komödie verstanden wissen wollte, hat Konwitschny mit leichter Hand inszeniert, führt uns ins Private der vielen kurzen Szenen, fokussiert das Schicksal der Hauptfigur Marie, jenem jungen Mädchen aus bürgerlichem Hause, das einem anständigen Mann versprochen ist, dann aber Schritt für Schritt abrutscht – bis ins Bodenlose sinkt, zur Straßenhure wird.
Diamonds are a girl’s best friends – Marie als blondes Dummerchen
Die Marie ist bei Konwitschy ein sehr blondes Dummerchen, ein pubertär kichernder Teeny, der in die eigene Abwärtsspirale gänzlich unwissend hineingerät, den Verlockungen von Geschenken aus der Männerwelt ganz naiv erliegt: Diamonds are a girl’s best friends. Susanne Elmark ist mit ihrem geläufig brillanten wie ausdrucksstarken Koloratursopran und dem geradezu freudigen Umgang mit den scheinbaren Unsingbarkeiten der Partitur eine ideale Marie, voller sängerdarstellerischen Mutes und maximaler Präsenz.
Konwitschnys Kammerspielverkleinerung einer monströsen Geschichte
Der nachgerade zurückhaltende, dabei wie bei Konwitschny stets handwerklich hochpräzise, das Stück freilich zu sehr aufs kammerspielhaft Konkrete verkleinernde Zugriff verlagert die Aufmerksamkeit an diesem gewichtigen Musiktheaterabend auf Marcus Bosch. Wo sich Konwitschny dem multimedialen Gesamtkunstwerk mit seinen Überlagerungen von Zeitschichten verweigert, lässt Nürnbergs scheidender Generalmusikdirektor die Musik für sich sprechen, nimmt das Monströse der Partitur beim Wort, fächert mit maximaler Detailgenauigkeit, Wachheit und Präzision auf, was Zimmermann so kühn erdacht hat.
Boschs glänzend disponierte, extrem geforderte Staatsphilharmonie Nürnberg wirkt derart exzellent vorbereitet, dass die einst von Wolfgang Sawallisch diagnostizierte Unspielbarkeit der Partitur einem lustvollen, leichtgängigen Umgang mit dem hochkomplexen Material gewichen zu sein scheint. Natürlich verfehlen dabei die krassen lauten Stellen ihre Wirkung mitnichten, aber auch die irisierenden leisen Momente arbeitet Marcus Bosch als so fein gewirktes, luzides Stimmengeflecht heraus, dass Zimmermanns Musik eine heimliche, ungeahnte Schönheit entfaltet.
Percussionspralle Techno-Party
Indem Konwitschny das Publikum im Schlussakt auf die Bühne verbannt und zu zahlenden Statisten macht, transformiert er Zimmermanns totales Theater entgegen dessen Intentionen zu einem unsichtbaren Theater, einem Hörtheater, einer Art percussionsprallen Techno-Party. Die Parallelhandlungen, die Zimmermanns Idee von der Kugelgestalt der Zeit künstlerisch beglaubigen sollen, verlieren hier ihre Bedeutung. Dafür wird die Musik und die ihr innewohnende Botschaft selbst zur aufregenden Hauptsache.
Staatstheater Nürnberg
B. A. Zimmermann: Die Soldaten
Marcus Bosch (Leitung), Peter Konwitschny (Regie), Helmut Brade (Kostüme & Kostüme), Tilmann Rönnebeck, Susanne Elmark, Solgerd Isalv, Helena Köhne, Jochen Kupfer, Leila Pfister, Alexey Birkus, Uwe Stickert, Hans Kittelmann, Antonio Yang, Tim Kuypers, Ludwig Mittelhammer, Sharon Kempton, Chor des Staatstheater Nürnberg, Staatsphilharmonie Nürnberg