Die Begeisterung war groß über die Dresdner „Nabucco“-Premiere, welche am 25. Mai die letzte Inszenierung von Peter Konwitschny ablöste, und über deren Titeldarsteller Andrzej Dobber. Jetzt freute man sich bei einer frühsommerlichen Serie von Star-Gastspielen neben Angela Gheorgiu als „Tosca“ vor allem auf das Semperoper-Debüt einer Persönlichkeit, welche die Opernwelt seit über 50 Jahren in Bann schlägt. Die Biographie im Besetzungsheft legitimiert das in ehrfurchtheischenden Zahlen, selbst wenn man die immense Leistung von über 200 umjubelten „Otello“-Vorstellungen in der Titelpartie unterschlägt. Doch nach der kaum merkbar verlängerten Pause verkündet Peter Theiler, Intendant der Semperoper Dresden, der schon vor Beginn um Nachsicht wegen einer kurz zurückliegenden Erkältung des prominenten Gastes gebeten hatte, dass Plácido Domingo nicht weitersingen werde. Den zweiten Teil übernimmt Markus Marquardt singend mit Notenpult, es spielt der Regieassistent Bernd Gierke. Das erste raumfüllende Bravo des Abends folgt nach dem großen Duett des Einspringers mit der fulminanten Assoluta Saioa Hernández.
Akkumulation von Elendsquartieren
David Bösch entwirft in seiner Inszenierung die grausige Akkumulation von Elendsquartieren, militärischer Einschüchterung und sozialer Verrohung. Der Schauplatz ist fast gleichgültig, denn auch unter Jehovas auserwähltem Volk herrscht bei der Einnahme Jerusalems und in der babylonischen Gefangenschaft das Faustrecht, bei den Gegnern dagegen durch Rituale getarnte Mordlust. Der Flüchtlingstower, den Patrick Bannwardt auf volle Portalhöhe gebaut hat, öffnet sich im zweiten Teil und gibt eine manegenähnliche Fläche frei. Dort blutet vor ganz Babylon ein aufgehängter Riesenstier aus. Der zum Töten und Opfern allzeit bereite Oberpriester, als der Sejong Chang mit den prominenten Bühnenkollegen auf gleicher Höhe agiert, spritzt das Stierblut in die Massen.
Dabei besteht korrekte Quotengleichheit zwischen Frauen und Männern – egal ob Opfer oder Täter. Abigaille mobilisiert eine weibliche Schutzstaffel. In Meentje Nielsons Kostümen rücken Krisenherde vom Euphrat Richtung Elbe. Die äußerst geschickte Lichtgestaltung lässt Grauen und Entsetzen keine Sekunde erlahmen. David Bösch brachte Verdis musikalisches Volksdrama also in die genau richtige Balance zwischen glaubhafter Erschütterung und Starre des Entsetzens. Vor allem das Drama von Nabucco und seinen beiden Töchtern lässt er mit vollem Ernst ausspielen, wofür ihm die Semperoper eine durch die Bank großartige Besetzung zur Verfügung stellte.
Schwacher Vater starker Töchter
Deshalb fällt es schwer, Plácido Domingo zu glauben, dass er Vater bzw. Adoptivvater dieser beiden so bewundernswert starken Frauen ist. Saioa Hernández! Mit fabelhaft konzentrierter Energie schießt sie in einer der schwersten Verdi-Rollen Töne von gestählter Bronze – oder mit feurig gefasster Lyrik, wenn sie erkennen muss, dass sie auch nicht als systemkonforme Kampfhyäne die Anerkennung Nabuccos gewinnen kann. Die andere, echte Tochter Fenena: Christa Mayer fürwahr kein Opferlamm. Auch mit dem Kopf an der Würgeschlinge singt sie auf großem und dramatisch flutendem Atem.
Plácido Domingo kämpft – und besticht dennoch mit deutlicher Diktion und starker Bariton-Höhe
In der tiefen Lage kommt Domingo, der sich vor seinem Bühnenabschied noch der Herausforderung aller Verdi-Baritonrollen stellen will, nie ganz an. In den Höhenregionen erweist sich der geliebte Senior weitaus sicherer als Marquardt, der dafür in der vokalen Attacke beeindruckenden Vorsprung gewinnt. Erstaunlich ist nach wie vor die deutliche Diktion Domingos, der etwas mit dem Stoffmaterial und Tascheninhalt seines Militäroveralls kämpft. Domingo nimmt Zuflucht zu jener professionellen Routine, mit der er auch während seiner Glanzzeit die kurzfristig in den prallen Megastar-Kalender eingeschobenen Repertoireabende in Hamburg und München zum Erlebnis machte. Die Töne hat er alle, aber nicht ganz jene von Dirigent und Regisseur aufgeputschte Temperierung, die im Zickzack über Metzgerklingen springen soll.
Massimo Giordano versöhnt mit der Kürze seines Parts, indem er die Deklamationsszenen besonders intensiv und mit traumhaft dunklem Tenor gestaltet. Durch die kurzfristige Umbesetzung des babylonischen Königs gerät Simeon Esper zu Unrecht ins Hintertreffen. Tahnee Niboro zeigt in ihren wenigen Soli, dass sie sich in ihren Dresdner Gesellenjahren bestens für zukünftige größere Aufgaben rüstet.
Ungebremste Orchesterkraft
Wie David Bösch kommt auch Dresdens erster Gastdirigent Omer Meir Wellber hervorragend mit Verdis Melodramma zurecht, weil er mit der Pranke grazil zu winken versteht. Wellbers Zusammenarbeit mit der Sächsischen Staatskapelle zeugt von weitaus innigerer professioneller Harmonie als seine monochrome Italianità vor dem Bayerischen Staatsorchester. Das „Nabucco“-Rezept gelingt: Wellber geht aufs Ganze, schärft die Rhythmik und braucht bei diesem kraftvollen Sängerensemble hinsichtlich Dynamik keinerlei Bremsen. Die Staatskapelle sorgt intuitiv für Feinschliff und veredelnde Nebenstimmen, die man bei diesem frühen Verdi aus dem Jahr 1842 kaum vermutet und noch seltener hört. Die Weichheit der Streicher, die hier mit dem Legato des kräftig aufgestockten Opernchors auf‘s schönste zusammenfindet, wird eine tendenziell ungewohnte „Nabucco“-Erfahrung. Dabei kommt das Weichspülprogramm im durch Jörn Hinnerk Andresen zur Piano-Expertise nobilitierten Gefangenenchor vor dem ins Kraftfinale drängenden Schleudergang, auch weil Vitalij Kowaljow als hebräischer Oberpriester Zaccaria mehr Racheengel als Trostspender ist.
Omer Meir Wellber auf dem Weg zum besten „Nabucco“-Dirigenten seiner Generation
Vom beabsichtigten Kräftemessen der beiden Kontrahenten Nabucco contra Zaccaria gewinnt man allerdings erst nach der Pause den richtigen Eindruck. In dieser packenden Konstellation dürfte es allerdings für fast jeden Gast und Einspringer schwer sein, sich mit heilem Ausgang zu behaupten. Wellber hat die besten Chancen, zu einem der besten „Nabucco“-Dirigenten seiner Generation zu werden: Kaltes Verdi-Feuer mit viel Metall, in kleinen Dosierungen gebändigt durch schmeichelnde Seide.
Semperoper Dresden
Verdi: Nabucco
Omer Meir Wellber (Leitung), David Bösch (Regie), Benjamin David(Mitarbeit Regie), Patrick Bannwart (Bühne), Meentje Nielsen (Kostüme), Jörn Hinnerk Andresen (Chor), Fabio Antoci (Licht), Kai Weßler (Dramaturgie), Plácido Domingo, Andrzej Dobber & Markus Marquardt (Nabucco), Massimo Giordano (Ismaele), Vitalij Kowaljow (Zaccaria), Saioa Hernández (Abigaille), Christa Mayer (Fenena), Sejong Chang & Alexandros Stavrakakis (Oberpriester des Baal), Simeon Esper (Abdallo), Tahnee Niboro & Iulia Maria Dan (Anna), Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden, Sinfoniechor Dresden, Extrachor der Semperoper Dresden