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Opern-Kritik: Semperoper Dresden – Moses und Aron

Massen im Sturm

(Dresden, 29.9.2018) Calixto Bieito und Alan Gilbert bescheren dem neuen Semperopern-Intendanten Peter Theiler mit Arnold Schönbergs Zwölftonoper einen grandiosen Einstand.

vonRoland H. Dippel,

Die Antrittspremiere des neuen Semperoper-Intendanten Peter Theiler ist programmatisch: Nach erfolgreichen Jahren am Staatstheater Nürnberg, am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und am Theater Biel Solothurn will er auch in Dresden Oper und Ballett mit politischem Bewusstsein, starke Regie-Handschriften und kontrastreiche Diskurse. Ein komplexeres und gedanklich spröderes Werk als Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ ist als Begrüßungshäppchen für die geladenen Honoratioren der sächsischen Landeshauptstadt schwer denkbar.

1975 fand an der Semperoper in der Regie Harry Kupfers die umstrittene und später in gleicher Besetzung auf Schallplatte eingespielte DDR-Erstaufführung statt. Schönbergs Zwölftonoper auf sein eigenes Textbuch ist alles andere als eine weihevolle Bibeloper: Sie thematisiert vieldeutig und mit scharfem Geist die Unvereinbarkeit von politischer Idee und Lenkbarkeit bzw. Manipulierbarkeit der Massen. Das Premierenpublikum in der fast ausverkauften Semperoper reagierte mit langem, doch wenig dankbarem Applaus, der durch ein kaum artikulierbares Unwohlsein belastet schien.

Überall munkelte man von Längen des nur 100-minütigen Abends. Doch das trifft nicht ganz den Kern der Aussage von Calixto Bieito, der in seiner ersten Auseinandersetzung mit Schönbergs komplizierter Oper eine drastische Wende darstellt. Mit meisterhafter musikalischer Realisierung kommt diese Verstörung zum richtigen Zeitpunkt.

Personalisiertes Glück aus der Cyberbrille

Schon der Komponist und Intendant Rolf Liebermann hatte es anlässlich der „Moses und Aron“-Produktion in Paris 1973 als Dilemma bezeichnet, dass Schönberg kurz vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten für den Tanz und die beim Goldenen Kalb entfesselte Orgie filigrane Kammermusik komponiert hatte. Tatsächlich verweigert Calixto Bieito alle Grausamkeiten, die der Katalane sonst seit geraumer Zeit wie am Fließband für große Opernhäuser produziert.

Diesmal gibt es „nur“ zwei physische Brutalitäten: Einmal, wenn Aron die sich erst heftig gegen den Monotheismus wehrenden Volksmassen in einer Art Bluttaufe mit Schnitten in die Stirn zu EINER Volksgemeinschaft zusammenzwingt. Zum anderen, wenn ein junger Mann mit einem nicht genau bestimmbaren blutigen Organ sich Lippen und Haut streichelt. Sonst: Die drohende Schlange ein Kabel, kein Aussatz an der Hand des Propheten, der brennende Dornbusch ein Vokalsextett in Konzertaufstellung.

Szenenbild aus "Moses und Aron"
Moses und Aron/Semperoper Dresden: Simeon Esper (Ein junger Mann/ein nackter Jüngling), Tahnee Niboro (Ein junges Mädchen), John Tomlinson (Moses), Magnus Piontek (Ein Priester), Lance Ryan (Aron), Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sinfoniechor Dresden – Extrachor der Semperoper Dresden, Vocalconsort Berlin © Ludwig Olah

Die Chormassen in Ingo Krüglers unauffälligen Kostümen aus einer kaum näher bestimmbaren Gegenwart sind offenbar multikulturell. Sie fühlen sich, durch den smarten Aron dazu animiert, also offenbar wohl in Rebekka Ringsts nüchtern weißer Ummauerung. „Be God Yourself“ fordert der Videostream DAS ausgewählte Volk auf, indes zwei goldbronzene Statuen einer Schwangeren und eines Mannes zu greif- und sichtbaren Symbolen des unbegreiflichen Gottesgedankens werden. Binäre Codes und Programmierformeln flimmern hinweg über die Massenhaltung menschlicher Ressourcen.

Dieses „Volkes“ einziger wahrer Himmel ist die Cyberbrille für Alle. Jedes Wesen greift, zuckt, jammert, stöhnt im Rausch seiner personalisierten Visionsportionen. Verpixelte Glückserfüllung erahnt man, nämlich Urlaubsklischees und Sex pur. Es fehlt also an nichts, bis die „Happiness on demand“ sich abnutzt und durch allgegenwärtige Verfügbarkeit sogar der beliebig oft wiederholbare virtuelle Selbstmord an Reiz verlieren muss.

Generationenwechsel

Der von gleich vier weiteren Kollektiven von hinter der Szene ebenbürtig klangprächtig unterstützte Chor der Sächsischen Staatsoper erstickt fast als wogendes Menschenmeer den Glücksversprecher Aron in seinen Umklammerungen. Da ahnt man noch nicht, wie es weitergehen soll. Calixto Bieito überflügelt seine befürchteten und insgeheim vom Publikum lüstern erwarteten Sex- und Gewaltmanifestationen, indem er Bilder für das Ende der realen Taten sucht. An der Semperoper fehlt keiner der sonst aus Angst vor dem szenischen Nichtbewältigen gestrichenen Takte Schönbergs.

Szenenbild aus "Moses und Aron"
Moses und Aron/Semperoper Dresden: Lance Ryan (Aron), Christa Mayer (Eine Kranke), Komparserie © Ludwig Olah

Ist der Opfertod der Uralten und der Jungfrauen, die in Gewalt umschlagende sexuelle Euphorie als „nur“ virtuelle Wunschvorstellung leichter und damit gewissenloser verantwortbar? Da macht die Semperoper Arnold Schönberg zum Vordenker der Diskurse von Yuval Noah Hararis „Homo Deus“ und Shlomo Sands „Die Erfindung des jüdischen Volkes“. In einigen Punkten bleibt das natürlich frag- und diskussionswürdig. Überraschend endet die Oper mit einem plakativ deutlichen Schlagaustausch der Brüder und damit einem tiefgreifenden Generationenwechsel.

Ende der Geschichte?

Das Alte Testament nennt einen Altersunterschied von vierzig Jahren zwischen dem Gesetzgeber Moses und seinem jüngeren Bruder Aron. Das ist etwa der zeitliche Abstand zwischen der Generation der 1968er und dem Aufbruch in die kapitalistisch-mediale Evolution. Musikalisch und szenisch sind die beiden Ideologie-Designer deutlich als Repräsentanten ihrer Generation charakterisiert: Moses zerfetzt am Ende sein Notizbuch, in dem er die zehn Gebote notiert hat. Dessen Blätter fallen vorne, hinten krachen Geröllmassen nieder. Im dynamisch blauen Diplomatenanzug krümmt sich Aron zusammen, Licht aus.

Utopie contra Charisma

Szenenbild aus "Moses und Aron"
Moses und Aron/Semperoper Dresden: Lance Ryan (Aron), John Tomlinson (Moses) © Ludwig Olah

Sir John Tomlinson ist ein ergreifender, überzeugender Moses, dem zu Beginn die aus den Proszeniumslogen tönenden Stimmen des brennenden Dornbuschs dazu treiben müssen, als theoretischer Wortführer aktiv zu werden. Der Utopist Moses und der Pragmatiker Aron agieren beide nicht freiwillig, sondern gezwungen. Impulsgeber sind nicht die Gebote des Ewigen, sondern die drohenden Zeichen zur Unzeit. Lance Ryan zeigt Hektik mit öffentlichkeitswirksamer Hysterie. Er investiert diplomatisches Schmieröl und Wendigkeit. Dagegen prunkt John Tomlinson in klarer Diktion, die er für jede Silbe und Sinneinheit dieser Sprechrolle mit seinem noch immer großartigen Bassbariton stützt. Zu Recht verzichtet die Dresdner Neuproduktion auf den fragmentarischen dritten Akt. Die offene Frage ist das Ziel.

Imponierende musikalische Gesamtleistung

Die Beurteilung der musikalischen Gesamtleistung fällt denkbar leicht: Imponierend die Staatskapelle Dresden und imponierend, wie Alan Gilbert aus der extrem anspruchsvollen Partitur ein prägnantes Konversationsstück für großen Chor mit ausgedehnten solistischen Intermezzi modelliert. Die Choreinstudierung durch Jörn Hinnerk Andresen, Cornelius Volke und David Cavelius ist auf der Höhe des hier zu erwartenden Leistungsspektrums mit gerundeten Härten.

Als eine Bremse im Kollektivrausch der Massen, die ihr Unbehagen nicht zu artikulieren weiß und sich letztlich doch in der allgemeinen Verführbarkeit fallen lässt, führt Calixto Bieito die junge deutsche Sopranistin Tahnee Niboro. Das powert die Produktion auf, auch weil diese keine Antworten auf die dargestellte Zivilisationsdämmerung gibt. Also kein schlechter Start für Peter Theiler, der sehr neugierig auf die nächsten Produktionen macht.

Semperoper Dresden
Schönberg: „Moses und Aron“

Alan Gilbert (Leitung), Calixto Bieito (Regie), Rebecca Ringst (Bühnenbild), Ingo Krügler (Kostüme), Jörn Hinnerk Andresen (Chöre), John Tomlinson (Moses), Lance Ryan (Aron), Tahnee Niboro (Ein junges Mädchen), Christa Mayer (Eine Kranke), Simeon Esper (Ein junger Mann & Ein nackter Jüngling), Matthias Henneberg (Ein anderer Mann & Ephraimit), Magnus Piontek (Ein Priester), Beomjin Kim (Ein Jüngling), Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sinfoniechor Dresden, Extrachor der Semperoper Dresden, Kinderchor der Sächsischen Staatsoper Dresden, Vocalconsort Berlin, Sächsische Staatskapelle Dresden

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