Die Staatskapelle Dresden fand einen italienischen Meister am Pult – und das Semperoper-Debüt von Dietrich W. Hilsdorf raubt den Atem. Aus Gaetano Donizettis schottischer Tragödie entsteht dort durch wenige, im Geist der Entstehungszeit stimmige Veränderungen ein hochdramatisches Konzentrat: Der korrumpierbare Kaplan Raimondo Bidibent wird zum ältesten Bruder der phlegmatisch-melancholischen Lucia Ashton, die in beklemmend realen Alpvisionen von der toten Mutter heimgesucht wird. Die ungeheure Spannung zwischen Szene und der von nur oberflächlicher Wohlgefälligkeit befreiten Partitur provozierte prompt einige Buhs des sonst so distinguierten Dresdner Premierenpublikums. Dabei enthält diese Produktion vor allem eine Schärfung ganz im Geist von Walter Scotts „Die Braut von Lammermoor“ mit den für den Romancier so ungewöhnlichen Anleihen aus Fantastik und Empfindsamkeit.
Nachtgedanken
„Mors certa hora incerta“ steht in weißen Lettern auf dem Souffleurkasten: „Gewiss ist der Tod, ungewiss die (Todes-)Stunde.“ Niemand hätte gedacht, dass das abgründige Grauen auf der Bühne durch die strahlenden und oft gemeißelten Klänge aus dem Graben die fast noch eindringlichere Bestätigung erfahren wird. Schwarz ist fast alles in Johannes Leiackers Szenerie mit ihren vertikal gereihten Neonröhren. Schwarz sind die Gewandungen der von Gesine Völm etwa um 1910 gedachten Handlungszeit: Noch ist in diesen Jahren die Misogynie des Bürgertums Mainstream, die Angst vor kämpferischen Ausschreitungen wächst. Der bereits in Salvadore Cammaranos Libretto vergröberte Konflikt zwischen den Häusern Ashton und Ravenswood interessiert weniger. Selten zeigt ein Bühnenbildner an einem Opernhaus dieser Größe mehr Bescheidenheit: Ein Tisch, eine verwüstete Tafel, ein schwarzer Sarg, die rotglühende Bibel und das Bett, in dem Lucias Unschuld dem Familienvorteil geopfert werden soll. Das ist fast alles.
Schwarzes Motivreservoir
Gegen Cammaranos sentimentale Konzentration des Romans rückt man mit voller Energie an. Frauen sind Statussymbol oder Gesellschaftsstatisterie, sonst ganz und gar entmündigt. Sogar die tote Mutter zeigt in Lucias Traum kaum Mitgefühl, viel Härte und noch mehr Stolz. Dietrich W. Hilsdorf baut die Darstellung von Lucias Unterdrückung subtil auf. Schläge und Übergriffigkeiten Enrico Ashtons auf seine Schwester geschehen in kleinen Bewegungen. Psychischer Druck entsteht durch Haltungen. So fällt der Funke des Mitleids bei der erzwungenen Trauung nicht nur auf Lucia, sondern genauso auf den im denkbar falschesten Moment zurückkehrenden Edgardo. Auf dem Schoss Raimondos sitzend beginnt Lucias Absturz. Apathisch lauscht sie ihm, der sie zur „Erfüllung in der Pflicht“ ruft – wie mit einem Kinderlied aus alter Zeit. Die Duellvereinbarung Enricos und Edgardos wird im Schein der Kandelaber später zur mehr solidarischen als gegnerischen Absprache.
Protagonist Staatskapelle Dresden
Diese Inszenierung kann sich auf den Mann am Pult verlassen: Giampaolo Bisanti, neuer musikalischer Chef in Bari, holt den Psychoschliff aus der Staatskapelle Dresden und alle Reize aus Donizettis oft unterschätzter Instrumentation. Das hat einen Tiefenglanz wie selten und veredelt alle Rezitative zu gewichtigen Dialogen. Detailgenau wechseln Ausdruck und Tempi mitten im Takt, schmiegen sich an, rauen auf und schmelzen dahin. Jeder Ton, jeder Akkord kommt knallscharf und gleißend auf den Punkt. So erhält dieses „dramma tragico“ über den Liebesromanzen und Drohtiraden einen leuchtenden Panzer, der sogar Blutlachen silbern schimmern lässt. Erregend!
Sagenhafter Sänger-Fang: Venera Ginadieva
Bei den Solisten verschieben sich dadurch die dramaturgischen Balancen etwas. Mit der Russin Venera Ginadieva hat die Semperoper einen sagenhaften Fang getan: Seidenweiche Töne auf einem gut gestützten vokalen Fundament, warme Fülle und Weichheit in allen Lagen. So sympathetisch erfüllt sie die Vorgaben, dass sie nach vielleicht mit einer Nuance zu vollen Rundungen erst am Beginn der großen Wahnsinnsszene im Quantensprung zu einem mehr bewegenden, tieferen, größeren Charakterbild ausholt. Mit derart konzentrierter Kraft lässt sich das aber kaum intensiver erleben. Das dem ermordeten Pflichtbräutigam Arturo hier endlich einmal deutlich zugewandte Schuldgeständnis und die Cabaletta als schmerzlich gedehnter „Schattenwalzer“ mit dem Bruder Raimondo bilden den Höhepunkt dieser Premiere. Die von Donizetti ursprünglich vorgesehene Glasharfe wird bei Lucias psychischem Zusammenbruch zum utopischen Kontrastmittel gegen irdische Grausamkeit.
Bass Georg Zeppenfeld wird zum zweiten Mittelpunkt des Abends
Aber Venera Ginadieva hat einen gar mächtigen Konkurrenten in Georg Zeppenfeld, der den Part des Raimondo zum ebenbürtigen, zweiten Mittelpunkt des Abends hochreißt. Problemlos übernimmt er vor Aleksey Isaevs Enrico die Führungsrolle im Hause Ashton und macht damit die dramaturgische Aufwertung seines Parts erst recht plausibel. Georg Zeppenfelds helltimbrierter Prachtbass tut sein Übriges. Aleksey Isaevs Bariton kann neben ihm nicht immer in dem für seinen Part erforderlichen Kraftfeld agieren, manchmal entgleitet ihm zwischen Turbofortissimo und lyrischen Bögen die Mitte. So gewinnen aber Enricos hinter Rohheit versteckte Labilität und Raimondos gefühlloser Pragmatismus erst recht die parallele verbrecherische Motorik. Den Kosmos einer durch Prestigezwang ausgehöhlten Familie vollendet Susanne Gasch als Lucias Mutter, die Dietrich W. Hilsdorf aus dem belanglosen Part der Alisa modelliert: In ihren wenigen Szenen zeigt auch sie sängerische und szenische Gewalt mit Führungsqualitäten.
Eiskalte Hochromantik
Am Ende ist der Rest nicht Schweigen, sondern ein sich durch Edgaras Montvidas vollendender Triumph Edgardos. Leicht wäre es gewesen, Lucias Liebhaber unter deren Peinigern einzureihen. Aber so einschichtig agieren Dietrich W. Hilsdorf und Giampaolo Bisanti nicht, ganz im Gegenteil. Edgardo wird hier genauso deutlich zum bemitleidenswerten Opfer der Intrige wie Lucia, sein strahlendes Timbre stellt er jede Sekunde in den Dienst der düsteren Emotionen.
Viel gewagt – alles gewonnen
Riesige Blutflecken bedecken am Ende die weißen Textilien Edgardos, Lucias und des von ihr im Bett gemeuchelten Bräutigams Arturo Bucklaw. Es liegt nur an Donizettis Werkplan, dass weder Simeon Esper als Arturo noch Tom Martinsen als intriganter Erfüllungsgehilfe Normanno nicht so recht zum Zug kommen. An der Semperoper zeigt sich, dass „Lucia di Lammermoor“ mindestens ähnlich abgründige Verstörungen bereithält wie der in Dresden als Stammstück beheimatete „Freischütz“, in dem der Chor ebenso kantable und nicht minder genussvolle Außenseiterverachtung zeigen darf. In Dresden hat man viel gewagt und alles gewonnen: Im Höhenflug einer solchen Durchdringung offenbart dieses Gipfelwerk des Belcanto einen kalten unwiderstehlichen Zauber. Romantische Liebesgeschichten sind eben nicht nur beglückend, sondern vor allem grausam.
Semperoper Dresden
Donizetti: Lucia di Lammermoor
Giampaolo Bisanti (Leitung), Dietrich W. Hilsdorf (Regie), Johannes Leiacker (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme), Jörn Hinnerk Andresen (Chor), Venera Gimadieva (Lucia), Edgaras Montvidas (Edgardo Ravenswood), Alexeij Isaev (Lord Enrico Ashton), Simeon Esper (Lord Arturo Bucklaw), Georg Zeppenfeld (Raimondo Bidebent), Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden