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Opern-Kritik: Semperoper Dresden – Die tote Stadt

Der Tod und die Tänzerin

(Dresden, 16.12.2017) Im klugen Umgang mit Korngolds Oper „Die tote Stadt“ vollendet Dirigent Dmitri Jurowski, was Regisseur David Bösch andeutet

vonRoland H. Dippel,

Das Erstaunlichste an dem seit etwa zwanzig Jahren wieder starken Erfolg von „Die tote Stadt“ ist nicht nur, dass Erich Wolfgang Korngold als 20-jähriger die Sexualneurosen der Wiener Moderne zu einem zweistündigen Klangrausch zusammenschnürte. Einmalig in dieser Konstellation ist erst recht, dass sein Vater, der renommierte Musikkritiker Julius Korngold, ihm unter dem Pseudonym Paul Schott das Textbuch nach Georges Rodenbachs Novelle „Das tote Brügge“ und dessen Schauspiel „Das Trugbild“ einrichtete. Aus heutiger Perspektive abstruse Theorien von Frauen als zu intellektuellen Leistungen unfähigen, hysterischen Geschlechtswesen werden in „Die tote Stadt“ zum Opernopium.

Vertretbar ist das nur, weil in Korngolds bekanntester Oper die Tänzerin Marietta das Gespinst einer doch recht fragwürdigen Männerphantasie ist. Diese Figur spiegelt die Besessenheit des Protagonisten Paul, der sich nicht aus der nekrophilen Abhängigkeit von seiner verstorbenen Frau Marie befreien kann. Wie schon bei Donizettis „Lucia di Lammermoor“ vor einigen Wochen, gelingt der Semperoper Dresden ein faszinierender und explosiv nervöser Opernabend.

Grab- und Sandkastenspiel

Szenenbild aus "Die tote Stadt"
Die tote Stadt/Semperoper Dresden © David Baltzer

Am Ende bleibt Paul nicht auf dem Teppich, sondern liebkost sich mit dem langen Zopf seiner toten Frau Marie in einem Sandkasten, der auch eine Grabgrube sein könnte. Es ist eine richtige As(oz)i(alen)-Höhle mit sparsamen Spuren früheren Wohlstands, in die ihn Patrick Bannwart steckt. Hohe Mauern, auf denen in schwarzen Lettern „MARIETTA“ steht. Die von Vater und Sohn Korngold fabulierte „Kirche des Gewesenen“ verfließt in einer Gegenwart ohne Zukunft. Denn Paul, der – selten sieht man das so deutlich – bei der Prozession frontal an der Rampe kniet, bleibt Sklave seiner katholisch geprägten Doppelmoral: Die Semperoper bläst diesen absichtlich unglaubwürdigen Religionszirkus zu voller Größe auf.

Dabei sind der riesige Kinderchor und schmerzlich trübe Nonnenheerscharen unter strohigen Haaren, im gleichen Platinblond wie Marietta. Falko Herold verortet die Kostüme um 1960, in denen der gerade aktuelle Jubilar Heinrich Böll gegen die Spießigkeiten des „neu-rheinischen Katholizismus“ anschrieb: Vierzig Jahre nach der Dresdner Erstaufführung 1921, als die symbolistischen Geschlechter-Stereotypen der „toten Stadt“ dort zum Sensationserfolg wurden wie überall.

Heinrich Böll und die Wiener Moderne

Wie die Figur aus einem Roman von Henrich Böll springt denn auch Marietta auf die Bühne: Der Rocksaum ihres Blumenkleids verläuft, damals provokativ, über dem Knie. Ihre rostfarbene Lederjacke signalisiert ein Selbstbewusstsein, das die Mitwelt als Verruchtheit missverstehen muss. Paul ist offenbar ein nur mäßig begabter Maler: Das Porträt seiner verstorbenen Verflossenen zeigt in modisch-frohen Aquarelltönen eine Traumfrau, Typ „gebräunte Strandschönheit“ und natürlich strahlend blond.

Später im Traum verkünden Neonlinien „Love“, „Love“, „Love“. Auf einem weißen Riesenbett schweifen Pauls biedere Sexvisionen mit Anlaufschwierigkeiten ins verboten Bizarre. Auch hier schlägt Böschs Affinität zu Böll durch, wenn dieser Karneval der Triebe billig wird. Natürlich stammt der Pierrot mit roter Riesennase vom Rhein. Andere hätten mondän gezaubert, aber David Bösch bleibt mit seiner Personenführung genau am Text und generiert dadurch eine harte Fallhöhe zum verzehrend erotischen Fluidum der Musik.

Szenenbild aus "Die tote Stadt"
Die tote Stadt/Semperoper Dresden © David Baltzer

Erotischer Film in der Musik

Ein weiteres Mal könnte man nicht nur über die Staatskapelle Dresden jubeln, sondern wie bei „Lucia“ auch über die Entscheidung für den richtigen Gastdirigenten. Anstelle des im Juni 2017 verstorbenen Sir Jeffrey Tate tritt Dmitri Jurowski ans Pult und macht aus der mit Orgel und Orchesterklavier hochgeköchelten, dazu mit allen Raffinessen Wagners, Debussys, Lehárs gespickten Partitur einen faszinierenden Exzess. Er hat es mehr mit dem elektrisch aufgeladenen Knistern des roten Seidenschals der toten Marie als mit dessen schmeichelnder Oberfläche.

Und er vollendet das, was David Bösch andeutet. Dmitri Jurowski macht die beiden Hits dieses „Sexuellen Projektionsmysteriums“ nämlich nicht zu Inseln des Wohlklangs, sondern hält das nervöse Vibrieren durch, reizt alle von Korngold ermöglichten Farbwerte aus. Der Dirigentenstab wird zum Konturenzeichner. Das bleibt kernig, wird nie butterweich. Deshalb erweisen sich die hier übervorsichtig getätigten Striche als vollkommen unnötig.

Dramatisches Psychodrama

Szenenbild aus "Die tote Stadt"
Die tote Stadt/Semperoper Dresden © David Baltzer

Ein Dilemma in der „toten Stadt“: Oft unterlaufen die Sänger von Paul und Marietta die in den riesigen Partien gespiegelten Neurosen mit allzu gesunden Spitzentönen. Die Gesunden hier sind aber die Anderen: Nämlich die von der Haushälterin zur Putzfrau abgesunkene Brigitta und Pauls im Rollstuhl sitzender Freund Frank. Sie vegetieren beide schlicht und anständig dahin. Dabei ist ihnen, vokal betrachtet, pudelwohl: Christa Mayer und Christoph Pohl agieren den beiden Hauptpartien absolut ebenbürtig. Burkhard Fritz zeigt Paul als trauriges Opfer der eigenen Verklemmtheit, Manuela Uhl macht Marietta zum Feindbild harmloser Frauenzeitschriften aus dem letzten Jahrhundert. Diese imposanten Sängerdarsteller beherrschen die große Attitüde von Korngolds melodischem Sinnentaumel.

Genauso zeigen sie aber die Brüche hinter dem Brunftgeschrei, die rastlose Getriebenheit und die nervösen Befangenheiten. Am Ende bleibt der Applaus leider etwas unter der erwarteten Erregungsspitze, weil es hier nicht nur der Maler mit der entfleischten Erinnerung treibt, sondern auch die Tänzerin mit einem putzmunteren Skelett: „Play Korngold!“. Dieser gefährliche Alptraum wird durch Manuela Uhl und Burkhard Fritz zur obsessiven Gier ohne Erlösung. Das hätte auch Sigmund Freud und Carl Gustav Jung gefallen.

Semperoper Dresden
Korngold: Die tote Stadt

Dmitri Jurowski (Leitung), David Bösch (Regie), Patrick Bannwart (Bühne), Falko Herold (Kostüme), Jörn Hinnerk Andresen (Chor), Burkhard Fritz (Paul), Manuela Uhl (Marietta), Christoph Pohl (Frank/Fritz), Christa Mayer (Brigitta), Tahnee Niboro (Juliette), Grace Durham (Lucienne), Khanyiso Gwenxane (Victorin), Timothy Oliver (Graf Albert), Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden, Kinderchor der Sächsischen Staatsoper Dresden

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