Um Depression und Suizid geht es in dem Stück. Mit „Zerbombt“ oder „Phädras Liebe“ hatte sich Sarah Kane in die erste Linie der jungen britischen Theaterschreiber katapultiert. „4.48 Psychosis“ von 1998 ist ihr letztes Stück. Darin gewährt sie schonungslose Einblicke in ihre eigene Depression, die sie ein Jahr später, erst 28 Jahre alt, in den Freitod treibt. Daraus hat der britische Komponist Philip Venables seine erste abendfüllende Kammeroper kreiert. Bei Simon Kane hat er die Rechte eingeholt. 2016 ist seine Kammeroper unter gleichnamigen Titel am Lyric Theatre Hammersmith in London uraufgeführt und gefeiert worden. Und ist noch im gleichen Jahr mit dem Royal Philharmonic Society Award ausgezeichnet worden – der höchsten Auszeichnung für aufgeführte Musik in Großbritannien. Das erstaunt bei einem Komponisten, den man kaum kennt. Das dürfte sich in Deutschland vielleicht bald ändern.
Venables hat für Dresden eine deutsche Fassung neu komponiert. Neukomponiert, weil viel in seinem Stück auf Sprachrhythmus angelegt ist. Die Deutsche Übersetzung stammt von Durs Grünbein, übrigens einem Dresdener. Und an der Semper 2 hat die Erstaufführung nun Premiere gefeiert. Das ist eine Experimentierstätte für junge Komponisten und verschiedene Musiktheaterformate der großen Semperoper.
„Sie – ha-ben – sehr – vie-le – Freun-de.“
Der Raum ist hier begrenzt. Die Bühne besteht nur aus einem viereckigen, langgezogenen Graben. Alles schwarz. Darin ein graues Sofa. Mit schwarzer Gaze dahinter abgetrennt sind die Musiker zu erkennen. Sechs Frauen quetschen sich bereits auf dem Sofa, während das Publikum die vier Stuhlreihen davor und zwei seitliche besetzt. Eine belanglose Launch-Musik dudelt in einer Endlosschleife. Plötzlich haut der Schlagzeuger ganz links mit der Faust auf die große Trommel. Im Rhythmus erscheinen Wörter in Übertiteln: „Ab-er – sie – ha-ben – doch – Freun-de.“ Mit jedem Satz wird die Trommel lauter. „Sie – ha-ben – sehr – vie-le – Freun-de.“
Die Launchmusik dudelt weiter, wandert durch den Raum. Die Damen beginnen, sich unangenehm berührt auf dem Sofa zu regen. Sie blicken gequält, kratzen, reiben sich. Der Beat wird lauter, bis die Frau in der Mitte – Sopranistin Sarah Maria Sun – heftig aufspringt und ins Publikum starrt. Sie ist die Hauptfigur und sorgt für den ersten Schockmoment von vielen an diesem Abend. Sie spricht erst vom Band, dann real. Sprache wird zu Gesang. Eine zweite Stimme kommt dazu. Alle Frauen springen auf. Das Orchester mit Flöte, einem Saxophonquartett, Akkordeon und Streichern hauen zackige Cluster hinein. Die werden plötzlich zu einem einzigen stehenden Klang, der im Ganztonabstand hin und her pendelt. „Ich will nicht sterben“, kommt es sprechend und gesungen. Das Akkordeon liefert in höchsten Lagen unangenehm psychotische Töne. Und wir sind mitten drin in dem Drama eines Menschen, der sich dem Verlust seiner Autonomie widersetzt, der um sein Ich kämpft und nach Liebe schreit!
Ein sechsfach einziger Schrei nach Liebe
Mit 24 kurzen Tableaux hat Sarah Kane eine Struktur vorgegeben. Sie besteht aus dialogischen Szenen, Gedankengängen oder Erinnerungsfragmenten, Verzweiflungs-, Hass- und Zornausbrüchen. „Depression heißt Zorn!“, so Kane auch im Stück. Venables hat für diese Vorlage eine plausible Vielschichtigkeit gefunden. Es gibt keine Personenangaben im Stück. Das sprechende Ich hat Venables in sechs Frauenstimmen aufgespalten, die Stephan Wedel, zuständig für die Bühne und die Kostüme, dezent modern, farblich blau, beige und weiß eingekleidet hat. Die Persönlichkeitsspaltung wird musikalisch in polyphonen Überlagerungen deutlich, verdichtet sich in unisono-Linien oder formt sich zu madrigalesken Ensembles.
Es wird gesprochen, auch vom Band, da auch mal stotternd verzerrt. Unentwegt wird interagiert, miteinander, nebeneinander, gegeneinander. Und Sarah Maria Sun ist auch schlafend auf einem Video auf dem Gazevorhang zu sehen. Sie steckt so intensiv in ihrer Rolle, dass sie an einer Stelle tatsächlich Rotz und Wasser heult. Grace Durham, ebenso wie Tahnee Niboro vom jungen Ensemble der Semperoper, sorgt mit einem Song im Stile Purcells für einen der starken sentimentalen Momente. Sarah Alexandra Hudarew liefert satte tiefe Töne. Carolin Löffler ist die Arztfigur, die sich einmal einen weißen Kittel überwirft und mit Körpereinsatz die widerständige Patientin ruhig stellt, indem sie Mullbinden in die Münder stopft.
Geschenkschachteln voller Medikamente
Regisseur Tobias Heyder entwirft über die gut anderthalb Stunden immer neue Spannungsdiagramme in dem eigentlich leeren Raum. Und Venables öffnet mit kleinen spielerischen Details wie unerwarteten Klavierklängen, einmal klimpert auch ein Toypiano, in jedem der 24 Tableaux den klangliche Raum assoziativ immer wieder neu. Und immer wieder ist die Angst zu spüren, dass sich noch mehr abspaltet und verloren geht. Die wiederkehrenden Zwiegespräche zwischen Arzt und Patientin geben darüber Auskunft. Sie werden übrigens von zwei Perkussionisten ausgeführt, in deren Rhythmus die Silben auf einer Übertitelleiste erscheinen. Wenn statt mit Trommelschlägen „der Doktor“ den Sprechrhythmus nur noch sägt, und „die Patientin“, eine Perkussionistin auf der anderen Seite, wütend oder verzweifelt nur noch die Hälfte der Wortsilben auf die Trommel haut oder mit einem quietschenden Gummi den Klang verzerrt, steht es schlimm.
Verstörend ist eine „Pillenphobieszene“, in der Psychopharmaka mitsamt Dosierung und ekelhaften Nebenwirkungen aufgezählt werden und Orgelklänge dazu pathetisch auffahren. Der weiße Gott spricht! Und es werden Geschenkschachteln freudig ausgepackt, die zum Entsetzen nur Medikamente enthalten. So wird also die Hoffnung auf Heilung beantwortet und enttäuscht. „Knipsen Sie mir nicht den Verstand aus, indem Sie versuchen, mich in Ordnung zu bringen!“
Suizid ist unter jungen Menschen die zweithäufigste Todesursache
Die theatral überaus plausibel dargestellten Ausnahmezustände machen betroffen. Nicht, weil sie ein Krankheitsbild widerspiegeln, sondern weil uns viele Momente bekannt vorkommen. Die Scham darüber, nicht so zu sein wie die anderen. Den eigenen Körper nicht zu akzeptieren. Nicht geliebt zu werden. Eine Wut auf die politischen Missstände in der Welt, die sich plötzlich zu einer Wut auf sich selbst verkehrt. Unsicherheit, die zum Verlust des Ichs führt. „Meine Liebe, meine Liebe, warum hast Du mich verlassen!“
Ein im Programmheft abgedruckter Artikel, der kürzlich unter dem Titel „Drang nach Leben“ im Spiegel veröffentlicht wurde, verweist auf die Aktualität des Themas. „Suizid ist weltweit unter jungen Menschen die zweithäufigste Todesursache – eine leider noch immer viel zu selten thematisierte Tragödie“, ist da nachzulesen. Die messerscharfen Beschreibungen der Gefühlszustände Sarah Kanes, poetisch übersetzt von Durs Grünbein, auf der Bühne verräumlicht durch ein sechsköpfiges Frauenensemble, mit Video und nicht zuletzt der Musik Philip Venables sensibilisiert auf eindrückliche Weise.
Wie die Gattung Oper ein emotional extrem belastendes Thema packend übersetzen kann
Dafür sorgt nicht zuletzt Dirigent Max Renne, der wie die Musiker des zwölfköpfigen Instrumentalensembles Klicks im Ohr hat, um die Einsätze der Zuspielbänder zu koordinieren. Drei Mal wacht die schlafende Person auf dem Video von Benedikt Schulte übrigens auf und setzt sich aufrecht hin. Das ist die Zeit des Erwachens, „wenn die Klarheit vorbeischaut“, immer um 4 Uhr 48. Ein lichter Moment von kurzer Dauer.
Zuletzt stehen die Frauen barfuß da. „Wem ich nie begegnete, das bin ich, mit dem Gesicht eingenäht in den Saum meines Bewusstseins…“ Und Sarah Maria Sun haucht ins Publikum: „bitte den Vorhang heben“. Hier zeigt Oper, dass sie auch ein emotional belastendes Thema in eine überzeugende Darstellungsform zu bringen vermag. Und wer mehr über den Opernkomponisten Philip Venables erfahren will, der hat dazu in einem Portraitkonzert in der Reihe „Fokus“ am 2. Mai auf der Probebühne II Gelegenheit.
Semperoper Dresden
Philip Venables: 4.48 Psychose
Max Renne (Leitung), Tobias Heyder (Regie), Stephan von Wedel (Bühne & Kostüme), Marco Dietzel (Licht), Benedikt Schulte (Video), Juliane Schunke (Dramaturgie), Karen Bendelow, Grace Durham, Sarah Alexandra Hudarew, Carolin Löffler, Tahnee Niboro, Sarah Maria Sun, Projektorchester