Nach der zweiten Vorstellung flutete der Applaus laut, heftig und in affirmativer Kürze für eine sagenhafte Gesamtleistung. Er hatte sogar etwas von jener Nervosität, die am Anfang des 20. Jahrhunderts den Aufbruch der Künste Richtung Exzesse, Delirien und existenzielle Aufschreie begünstigte wie das Musikdrama, das Richard Strauss in Marquartstein auf halber Strecke zwischen Salzburg und den Tiroler Passionsorten Erl und Thiersee komponiert hatte. Seine „Salome“ wurde 1905 von einer mit erotischer Fabulierlust aufgewerteten biblischen Randfigur zu einem der wichtigsten Starter in die Moderne. Das kann man in der Felsenreitschule sehr eindringlich erleben: Romeo Castelluccis erdend-ritualisierende Umsetzung liefert keine trashig oder kulinarisch gebändigte Show über eine Fünfzehnjährige mit sensationellen Obsessionen, sondern einen Alptraum über Zwänge und das Unbehagen in der (Un-)Kultur: Aufwühlend und verstörend. Und man erlebte in der strapaziösen Titelrolle mit Asmik Grigorian eine mitreißend souveräne Sängerin und faszinierende Persönlichkeit.
Protagonist Wiener Philharmoniker
Der Theatermagier Romeo Castellucci konnte nur durch eine derart intensive musikalische Erschließung wie hier gewinnen. Denn noch stärker als seine Inszenierung fasziniert, dass Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker wirklich alle Kategorien dieses Musikdramas aufschließen: Man hört die Modernität, das Melos, die nur selten vernehmbaren bizarren Risse und auch den einschmeichelnden Luxus aus Strauss› genialer Partitur, die hier eine intensive Durchleuchtung der Tragödie Oscar Wildes ist und nicht nur deren plakative Übermalung. Myriaden von Orchesterfarben umfließen die Sängerstimmen, die trotzdem mit herausragender Diktion aus dem mysteriösen und magnetischen Klanggeflecht herausragen. Selten klingt Kälte so weich, schillernd, sumpfig und doch so betörend. Besser und genauer geht es nicht.
Durch Verweigerung zum Sinn
Romeo Castellucci zieht seine von ritueller Nekrophilie überlagerte Sicht auf „Salome“ mit konsequenter wie trotziger Verweigerung durch: Kein Tanz der sieben Schleier, kein abgeschlagenes Haupt des Propheten und Messias-Vorgängers, schon gar kein boulevardesk-hysterischer Aktionismus, kein Blut. Asmik Grigorian erspielt sich, wenn sie Narraboth (Julian Prégardien mit wunderbar lyrischem Fokus) bezirzt, und selbst noch im Schlussgesang eine kindlich durchtriebene Erotik, die in einem anderen szenischen Kontext platt wäre. Doch hier sind das letzte vitale Impulse vor einem brachialen Bändigungsakt: Gefesselt und fast nackt kauert sie beim Tanz der sieben Schleier auf einem goldenen Objekt, das Herodes-Thron, Opferstein und Repräsentationssymbol zugleich ist. Ein Felsenwürfel senkt sich über sie.
Castellucci ließ die Arkadenbögen in den Mauern der Felsenreitschule versiegeln und zeigt damit eine eingemauerte Gesellschaft, über die sich bei Jochanaans Auftritt die Lichtschleuße im Dach zwangsläufig schließen muss. Nur zweimal wird dieser Jochanaan, dem sich Salome mit Madonnenkrönchen und Brautschleier nähert, kurz sichtbar. Der prachtvoll singende Gábor Bretz ist schamanischer Herrscher oder Opfer aus einer Parallelwelt. Ihm gelingt es, das schwarze Vakuum, in das die Regie den Täufer steckt, mit Spannung zu füllen. Eine noch klarere Trennung der Sphären mit ihren schmalen Nischen für das Begehren und die Gier auf das Unbekannte ist kaum denkbar. An Flüssigkeiten wird nicht gespart: Im Schlussgesang bewegt sich Salome zwischen brauner Erde und aus Plastikcontainern reichlich gegossenen Desinfektionsmitteln. Im Bannkreis mit ihr ein kopfloser, nackter Männerkörper: Das Sichtbarwerden des auf immer Verlorenen, die Unmöglichkeit von Erfüllung. Selten hat „Salome“ so packende Nähe und ist dabei trotzdem über weite Strecken so ent-sexualisiert wie in der Felsenreitschule.
Postreligiöses Mysterienspiel
Diese Darstellung einer überreifen Gesellschaft, die Romeo Castellucci auf Rituale des Seins und aufbrechende Mangelerscheinungen herunterbricht, ist von bezwingender Stärke. Salomes Wimmern um einen Kuss Jochanaans, das Erscheinen eines Rassepferdes und der Pferdekopf als Symbole für Zähmung und rituelle Schlachtung, das Zaumzeug als Dressurwerkzeuge für Tier und Mensch geraten aber auch immer wieder in Reibungsflächen zur Fellini huldigenden Eleganz der Kostüme. Herodes, die Juden, Nazarener und Diener sind uniform, bilden um Salome einen Kreis wie vor einer rituellen Steinigung und zelebrieren einen sinnfreien Kult des Erlesenen. Hier lauert hinter den Darsteller-Figuren, die immer wieder Requisiten von Castelluccis dekorativen Environments werden, auch die Gleichgültigkeit des szenischen Visionärs gegenüber wichtigen Details: Trotz runder Vokalität und szenischer Präsenz bleibt Anna Maria Chiuri als Herodias unauffällig, und sogar die Ausdruckskraft eines Sängers wie John Daszak wirkt gedrosselt durch unverbindliche Eleganz. Menschenkörper in Plastiksäcken dürfen nicht fehlen.
Keusch wie der Mond: „Salome“
Ein Mysterienspiel ohne christologischen Bezug als Heilmittel gegen überdrehte Motorik? Romeo Castellucci kann froh sein darüber, dass im Orchestergraben Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker diese nekrophile und versteinernde Sicht in pulsierender Perfektion verdichten. Die Felsenreitschule wird für diese 100 Minuten schon in der langen pantomimischen Einleitung mit der inszenierten Säuberung von den folgenden Verunreinigungen zum Felsengrab für Akteure und Publikum. „Te saxa loquuntur“ („Von dir sprechen die Steine“) steht mächtig auf dem schwarzen Vorhang zu Beginn. Gemeint ist damit auch jene Schrift über dem Eingang zur Hölle Dantes, die zum Verzicht auf jede Hoffnung drängt. Da steckt Romeo Castellucci also doch noch sehr tief im Katholizismus, der im Gegensatz zu ihm, dem neuen Guru des Musiktheaters, wenigstens noch Erlösung verspricht. Katholisch ist diese Produktion auch darin, dass Salome stürzt, von einer jungen Naiven und einer Inkarnation der Himmelskönigin zum Opfer ihrer unverformten Weiblichkeit wird. Diese Prinzessin ist tatsächlich keusch wie der hier pechschwarze Mond und ein Grund für den überwältigenden Erfolg der litauischen Sopranistin Asmik Grogorian sicher auch, dass es seit Lisa della Casa kaum eine Salome von so engelhaft gläserner Reinheit gegeben hat. Asmik Grogorian wächst darüber sogar noch mit beeindruckenden Reserven hinaus. Im einhelligen und erstaunlich widerspruchsfreien Jubel sollte nicht untergehen, dass diese phänomenale Produktion eine archaisierende Lustferne in Szene setzt. Schlichtheit tarnt sich mit exhibitionistisch ausgelebtem Intellekt.
Salzburger Festspiele in der Felsenreitschule
R. Strauss: Salome
Franz Welser-Möst (Leitung), Romeo Castellucci (Regie, Bühne, Kostüme & Licht), Cindy Van Acker (Choreografie), John Daszak (Herodes), Anna Maria Chiuri (Herodias), Asmik Grigorian (Salome), Gábor Bretz (Jochanaan), Julian Prégardien (Narraboth), Avery Amereau (Ein Page der Herodias), Matthäus Schmidlechner (Erster Jude), Mathias Frey (Zweiter Jude), Patrick Vogel (Dritter Jude), Jörg Schneider (Vierter Jude / Sklave), David Steffens (Fünfter Jude), Tilman Rönnebeck (Erster Nazarener), Paweł Trojak (Zweiter Nazarener), Neven Crnic (Kappadozier), Henning von Schulman (Erster Soldat), Dashon Burton (Zweiter Soldat), Wiener Philharmoniker