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Opern-Kritik: Salzburger Festspiele – Œdipe

Farbige Last des Lebens

(Salzburg, 11.8.2019) Ingo Metzmacher und Achim Freyer machen Enescus intensive Oper „Œdipe“ zu einem gewaltigen Ereignis.

vonRoland H. Dippel,

Seit einigen Tagen steht Achim Freyers Skulptur „Ödipus-Komplex“ neben dem Brunnenfoyer in der Hofstallgasse. Ein langes rotes Band reicht bis zu den Masken von Josef Adlhart und umhüllt deren Augen. Sonst besteht die Skulptur nur aus Materialien, die für Freyers Inszenierung von Enescus „Œdipe“ keine Verwendung fanden. Ein Jubelsturm mit allenfalls minimalem Widerspruch brandet nach der dreistündigen Premiere auf. Die Konzeption Freyers und seines Dramaturgen Klaus-Peter Kehr überholt in Quantensprüngen von Bildgewalt und Verdinglichung Simon Stones Salzburg-Krimi „Médée“ und Peter Sellars› harmlosen „Idomeneo“, den beiden anderen Auseinandersetzungen mit altgriechischen Mythen. „Œdipe“ ist ein, wenn nicht der Musiktheater-Höhepunkt des Salzburger Sommers 2019, auch weil er der Vision Hugo von Hofmannsthals, eines der Gründer der nächstes Jahr ihr hundertjähriges Bestehen feiernden Salzburger Festspiele, folgt: Der profunden künstlerischen Auseinandersetzung mit der Antike.

Œdipe: Eine der wichtigsten Opern des 20. Jahrhunderts

John Tomlinson (Tirésias), Christopher Maltman (Œdipe)
John Tomlinson (Tirésias), Christopher Maltman (Œdipe)

Die in über zehnjähriger Schaffenszeit bis 1931 entstandene und in Paris 1936 uraufgeführte Oper des rumänischen Violinvirtuosen, Komponisten und Musiktheoretikers George Enescu steht, anders als Strauss› und Hofmannsthals aufheulende „Elektra“, in Nähe zu Goethes verteufelt humaner „Iphigenie auf Tauris“. Enescu forderte straffende Kürze von seinem Textdichter Edmond Fleg, als dieser ihm aus Sophokles› beiden „Oedipus“-Tragödien und deren Vorgeschichte Stoff für zwei Opernabende lieferte. So entstand eine monumentale Partitur, in der Enescu aus Kompositionstechniken Wagners, des Impressionismus und der slawischen Musik-Ethnografie etwas ganz Eigenes, Großartiges, Bezwingendes schuf. Flegs geschickte Verknappung, die alle wesentlichen Momente der Tragödien und des Mythos enthält, und Enescus Vertonung der Umdeutung von Œdipes Sühnebereitschaft zur Ablehnung einer Verantwortung von unwissentlich auf sich geladener Schuld machen „Œdipe“ zu einer der wichtigsten Opern des 20. Jahrhunderts.

Dafür ist die von Freyer mit prägnanten Figuren und Requisiten Bühne und die von den Wienern Philharmonikern mit einem riesigen Instrumentarium prachtvoll gefüllte Felsenreitschule der ideale Aufführungsort. Ingo Metzmacher bringt jeden Takt der Partitur nach der erst durch ein Autograf-Reprint aus Rumänien erhellten Materialsituation. Deshalb ist die Salzburger Aufführung nach Meilensteinen wie der Koproduktion der Deutschen Oper Berlin mit der Wiener Staatsoper unter Götz Friedrich und Michael Gielen oder von Hans Neuenfels an der Oper Frankfurt die vollständigste Aufführung von „Œdipe“.

Ein im Innersten berührender Abend

Michael Colvin (Laïos), Katha Platz (Baby Oedipe), David Steffens (Le Grand Prêtre), John Tomlinson (Tirésias), Brian Mulligan (Créon), Anaïk Morel (Jocaste), Vincent Ordonneau (Le Berger)
Michael Colvin (Laïos), Katha Platz (Baby Oedipe), David Steffens (Le Grand Prêtre), John Tomlinson (Tirésias), Brian Mulligan (Créon), Anaïk Morel (Jocaste), Vincent Ordonneau (Le Berger)

Ingo Metzmacher durchmisst die Vokaltexturen von Wort und Schrei bis zu großen Kantilenen, die hymnische Archaik der Chorszenen, Momente einer impressionistischen Couleur locale und den monumentalen Gestus der durch einen Handlungszeit-Abstand von jeweils 20 Jahren getrennten vier Akte mit der idealen Proportionierung von getragenem wie transparentem Fluss und Feinzeichnung. Gerade dadurch macht er das für alle Mitwirkenden intensive Werk zu einem gewaltigen Ereignis.

Das gelingt auch deshalb, weil Freyers Bilder sich dem ausladenden wie filigranen Puls der Musik ohne Dominanzgebaren anschmiegen. Freyers szenische Sprache drängt nicht, aber sie zögert auch nicht. Oft steht der fast omnipräsente Chor im Dunkel, aus dem die homogenen Stimmen der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, des Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor mit ihren vielen Minisoli drohen und beten. Metzmacher und Freyer sind in kongenialer Schwingungsebene beieinander an diesem im Innersten berührenden Abend.

Während des langen Beginns schält sich Oedipus auf dunkler Bühne aus dem Körper eines Säuglings, in dessen Hülle er im Hain auf Kolonos nach vollbrachter Leidensarbeit am Leben zurückkehrt. Dieser Œdipe ist ein Boxer mit Muskelbergen, die sein Herz verschnüren. Zu erkennen ist das auch an der bulligen Jogginghose und den die Bühne füllenden Boxsäcken. Daseinskampf also für alle im zu beiden Teilen erst mit den ersten Akkorden verdunkelnden Zuschauerraum. Den mit Muskeln und Bizeps gepanzertem Körper bedeckt Œdipe zur Selbstblendung nach Erkenntnis der schicksalhaften Bürde von Vatermord (Laios als expressive dramatische Randerscheinung: Michael Colvin) und Ehe mit der Mutter Iocaste (schön in blauen Blütenblättern: Anaïk Morel). Christopher Maltman setzt auf die Kontrastschärfe von körperlicher und vokaler Hochspannung: Der Boxer gegen Erkenntnis und Schicksal hat vom ersten bis zum letzten Ton phänomenale Präsenz, starke Diktion in der französischen Originalsprache und zeigt anrührende Menschlichkeit in der fatalen Anstrengung, durch vermessenen Kampf gegen die Götter die ihm prophezeite Verstrickung zu vermeiden.

Christologische Ikonographie gehört zu Freyers die Antike überwindenden Visionen

Ève-Maud Hubeaux (La Sphinge)
Ève-Maud Hubeaux (La Sphinge)

Alle anderen Figuren haben fordernde Episodenauftritte, mit denen Freyer Zeit, Orakel und Ängste zueinander in Beziehung setzt: Der Seher Tirésias (John Tomlinson) wandelt als von einem Kind geführte Figur durch das Geschehen. Ganz in weiß steht am Beginn der Hohepriester mit den Adoptiveltern wie eine überirdische Dreiheit um Œdipe. Die im Inzest gezeugte Antigone strahlt wie verkörperlichte Himmlische Liebe aus der Höhe, bevor sie entschwindet. Christologische Ikonographie gehört zu Freyers die Antike überwindenden Visionen, wenn auch nicht so eindeutig wie in Romeo Castelluccis „Oedipus“-Osterspiel an der Berliner Schaubühne. Im dunklen Hain, Zielort der Erlösung, scheinen phallische Gemächte und weibliche Torsi aus dem Dunkel. Da wird Œdipe in der erlösenden Apotheose wieder zum Säugling, Feind und Trost verschwinden. Steckt der Sinn des Lebens im Modell eines schwarzen Hauses ohne Fenster in einem bei Auflösung der lachenden Sphinx (Ève-Maud Hubeaux) auseinanderfallenden Würfel?

Freyer ist allen Erklärungsversuchen und von ihm evozierten Gedankensprüngen immer einen Schritt voraus. Mit höchster Farbintensität leuchtet es von der Bühne bei Œdipes Selbstblendung am Gipfelpunkt seiner Erkenntnisfähigkeit und Erkenntnisbereitschaft. Nichts lässt sich nach Ende dieses Bilderbogen, der ein Verlaufs- und Verfallszyklus von Seelen, Ideen und Materialien ist, festhalten. Trotzdem haben Musik und Szene etwas vergleichbar Tröstliches wie der „Jedermann“ am Domplatz. Nur ohne Dogma. Diese Gesamtleistung ist ein verpflichtendes Versprechen zum 100-Jahre-Jubiläum der Salzburger Festspiele 2020 im Sinne ihrer Gründer: Glanz, Geist und Abkehr von Veräußerlichung.

Salzburger Festspiele
Enescu: Œdipe

Ingo Metzmacher (Leitung), Achim Freyer (Regie, Bühne & Kostüme), Franz Tscheck (Licht), Benjamin Jantzen (Video), Wolfgang Götz, Huw Rhys James (Choreinstudierung), Klaus-Peter Kehr (Dramaturgie), Christopher Maltman (Œdipe), John Tomlinson (Tirésias), Brian Mulligan (Créon), Vincent Ordonneau (Le Berger), David Steffens (Le Grand Prêtre), Gordon Bintner (Phorbas), Tilmann Rönnebeck (Le Veilleur), Boris Pinkhasovich (Thésée), Michael Colvin (Laïos), Anaïk Morel (Jocaste), Ève-Maud Hubeaux (La Sphinge), Chiara Skerath (Antigone), Anna Maria Dur (Mérope), Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor, Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker

Weitere Vorstellungen: 14., 17. & 24.8.2019, Felsenreitschule

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