„Die Bassariden“ sind ein Opern-Großformat. Bis dahin hatte Hans-Werner Henze eher die kleinere Form bevorzugt. W. H. Auden und Chester Kallman haben dafür „Die Bakchen“ des Euripides aufgegriffen, zum Libretto verdichtet, die Geschichte an Hans-Werner Henze weitergereicht und ihm damit die Vorlage für seine musikalisch schwergewichtige Opernnovität geliefert. Eine Neuinszenierung dieses Werkes zu den Salzburger Festspielen in der Felsenreitschule aufs Programm zu setzten ist allein schon deshalb gerechtfertigt, weil es 1966, nebenan im Großen Festspielhaus, uraufgeführt wurde.
Es ist ein eigenwilliges Monument einer Moderne, mit der sich Henze nicht um die Dogmen von Schulen kümmerte, sondern seinem eigenen Stern folgte. Hört man die Bassariden heute – zumal an diesem Ort und im Programmkontext mit der neuen „Salome“ von Romeo Castellucci und Franz Welser-Möst – mag man sie auch als eine späte Replik auf den einen der Salzburger Festspiel-Hausgötter, Richard Strauss, verstehen. Doch wo dessen mörderische Frauen-Einakter „Salome“ und „Elektra» abrupt enden, wenn alles gesagt ist und die Protagonisten tot sind, geht es bei Henze noch weiter, wird das Grauen zelebriert und gleichsam didaktisch ausgekostet.
Bewusst für das Große Festspielhaus komponiert: „Die Bassariden“
Kent Nagano, die Wiener Philharmoniker und Regisseur Krzysztof Warlikowski präsentieren hier die englische Originalfassung mit einem gesprochenen Prolog zur Familiengeschichte des Dionysos, wodurch sein erbarmungsloser Racheehrgeiz gleichsam als Traumabewältigung diagnostiziert wird. Sie sparen auch das „therapeutische“ Intermezzo zwischen dem zweiten und dritten der vier Sätze nicht aus. Für dessen Weglassen mag das Argument sprechen, das es den Sog unterbricht, mit dem die Musik auf die Katastrophe zustrebt. Nagano komplettiert nicht nur, sondern lässt nach dem in der Form fast schon heiter daherkommenden Zwischenspiel, auch noch eine Pause folgen.
Bei dieser Festspielproduktion, bei der musikalische Referenz-Qualität die ganze Produktion adelt, bedeutet das aufs Ganze gesehen keinen Spannungsabfall. Und obwohl Henze das Werk bewusst fürs Große Festspielhaus komponiert hat, erweist sich die Felsenreitschule (nicht zum ersten Mal) als geradezu ideal für ein großes Orchester, großen Chor und ein die Grenzen des Gewohnten auslotendes und auch überschreitendes Werk.
In Theben ist gerade der neue König Pentheus vom Großvater Cadmus auf den Thron gehoben worden, als ein neuer Gott das Volk rebellisch macht. Seine Anhänger setzten Rausch gegen Vernunft und (Selbst-)Beherrschung und gefährden damit akut die bestehenden Verhältnisse. Dabei ist es ein ziemlich perfider Racheplan, mit dem Dionysos ganz Theben, vor allem aber seine halbgöttliche Verwandtschaft (seine Mutter Semele und Pentheus’ Mutter Agaue sind Schwestern) vernichten will. Es gelingt ihm, dass die Mutter Agaue am Ende ihren Sohn Pentheus zerfleischt, weil sie ihn im Wahn für einen jungen Löwen hält.
Bei diesem exemplarischen Bruch von jeder Zivilisation im Zwischenmenschlichen hallte 1966 – deutlicher als heute – der grundlegende Zivilisationsbruch nach, der sich in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Deutschland, in die Perversion eines Holocaust gesteigert, wiederholte. Zugleich lag die 68er-Revolte bereits in der Luft. Fünf Jahrzehnte später ist es die erneut eskalierende Verführbarkeit der Massen durch einfache Antworten auf komplexe Fragen, die den „Bassariden“ ihre Dringlichkeit und eine verblüffende innere Verbindung zur Gegenwart bewahren. Auch wenn sich nicht alles im Detail übertragen lässt.
Der Regisseur und seine Dauerausstatterin Małgorzata Szczęśniak machen daraus eine durchexerzierte, fast bürgerliche Beziehungs- und Selberfahrungsgeschichte. Der Tücke der Bühnenbreite entziehen sie sich durch eine nüchterne Segmentierung der Bühne. Links ein eher sakraler Teil mit Semeles Grab, im Zentrum ein quasi öffentlicher Raum und rechts ein biederes Schlafzimmer. Radio, Bett und Schrank liefern die einzigen konkreten Verweise auf die Entstehungszeit der Oper. Die Inszenierung setzt insgesamt auf Zeit- und Ortlosigkeit, verzichtet auf mythologisches Historisieren, erzählt klar die Geschichte, verbindet das Archaische aber eher mit dem Psychologischen.
Krzysztof Warlikowski setzt auf psychologische Komponenten
Die szenische Umsetzung dieses Werkes hat sich in den wichtigen Neuinterpretationen der letzten Jahre immer mehr oder weniger deutlich auf die Seite der erzählten Geschichte (Peter Stein in Amsterdam 2005), ihrer forschen Aktualisierung (Tilman Knabe in Hannover 2008) oder auf eine diskursive Auseinandersetzung des Pentheus mit dem Dionysischen (Hilbrich in Mannheim vor allem aber Christoph Loy in München 2008) geschlagen. In Salzburg fokussiert Warlikowski seinen Blick eher auf die psychologische Komponente und projiziert sie nicht explizit in eine gesellschaftliche, politisch klar identifizierbare Dimension.
So hat Claude Bardouil für die Ekstase der Massen eine mit Oberkörper und Kopf kreisende Choreografie entwickelt. Er lässt den ekstatisch-rauschhaften Höhepunkt der Verehrung des Dionysos auf dem Berg Kytheron, dem Pentheus als Frau getarnt beiwohnt und dann zum Opfer fällt, durch ein naturereignishaftes, von ihr selbst entwickeltes Solo der Tänzerin Rosalba Guerrero Torres kulminieren. Die war auch davor schon aus ihrer Begleiterinnenrolle an der Seite des Dionysos herausgetreten.
Auch das bestialische Ende des Pentheus ist hier vom rituellen Zerfleischen durch eine Horde von Bacchantinnen in einen brutalen Mord mit dem Beil im Schlafzimmer, quasi TV-Krimi-kompatibel, übersetzt. In dem Intermezzo, bei dem Pentheus zum Zuschauer eines grotesken Schauspiels wird, das ihm die sexuelle Zügellosigkeit seiner Mutter und seiner Tante vor Augen führt, sehen die beiden Damen mit ihren fast nackten Gespielen am Halsband aus, als kämen sie gerade von einem Dreh mit Pasolini.
Musikalische Umsetzung lässt keine Wünsche offen
Musikalisch ist diese Produktion auch dank des exzellenten Solistenensembles ein Wurf! Das betrifft das gestalterische Charisma und die durchschlagkräftige Eloquenz von Russell Brauns Pentheus und seines verführerischen Herausforderers Sean Panikkar als Dionysos. Der Amerikaner mit Wurzeln in Sri Lanka ist eine echte Entdeckung. Keine Entdeckung, sondern eine erwartete Sensation ist die Agaue von Tanja Ariane Baumgartner. Aber auch Vera-Lotte Böcker als Autonoe an ihre Seite lässt keine Wünsche offen.
Selbst die Protagonisten der kleiner Partien sind zu rühmen: Neben Willard Whites würdevoll verzweifelten Cadmus im Rollstuhl gilt das für Nikolai Schukoff als blinden Seher Tiresias ebenso wie für Károly Szemerédy als agilen Hauptmann und für Anna Maria Dur als besorgte Amme Beroe. Kent Nagano ist allzeit der Herr des Geschehens – so wie er die Wiener Philharmoniker strukturiert und transparent führt, wirkt der opulente Rausch, zu dem Henze sich hier immer wieder zwischen wuchtiger Zuspitzung der Musik und einer betörend flirrenden Subtilität aufschwingt, wie maßgeschneidert für die Felsenreitschule! Ungeteilter Jubel für eine großartige, wahrhaft festspielwürdige Produktion.
Salzburger Festspiele
Henze: Die Bassariden
Kent Nagano (Leitung), Krzysztof Warlikowski (Regie), Małgorzata Szczęśniak (Bühne und Kostüme), Felice Ross (Licht), Denis Guéguin (Video), Claude Bardouil (Choreografie), Christian Longchamp (Dramaturgie), Sean Panikkar (Dionysus), Russell Braun (Pentheus), Willard White (Cadmus), Nikolai Schukoff (Tiresias / Calliope), Károly Szemerédy (Captain / Adonis), Tanja Ariane Baumgartner (Agave / Venus), Vera-Lotte Böcker (Autonoe / Proserpine), Anna Maria Dur (Beroe)