Drei Opern-Produktionen im Salzburger Festspielsommer 2019 sind Auseinandersetzungen mit der altgriechischen Mythologie: Mozarts „Idomeneo“ gehört zum Fokus, Enescus „Oedipe“ und Cherubinis „Médée“ erscheinen zum ersten Mal. Simon Stone, Hausregisseur am Theater Basel, ist mit seinen Schauspiel-„Überschreibungen“ und seiner Affinität zu cineastischen Kunstmitteln eine der stärksten Erscheinungen in der australischen und mitteleuropäischen Theaterszene. Nach seinem packenden „Lear“ bei den Salzburger Festspielen 2017 vertraute ihm Intendant Markus Hinterhäuser Cherubinis „Médée“ an. Kein einfaches Stück. Die 1797 am Pariser Théâtre Feydeau uraufgeführte Oper ist erst seit 2008 in einer quellenkritischen Edition verfügbar. Zu Recht umjubeltes Zentrum dieser Koproduktion der Salzburger Festspiele mit der Polnischen Nationaloper Warschau ist die junge russische Sopranistin Elena Stikhina, die den Titelpart wegen der Schwangerschaft von Sonya Yoncheva übernommen hatte und unter Thomas Hengelbrock zu einem faszinierendes Rollenporträt findet.
Ausgewiesen!
Médée wird nach der Scheidung heimatlos. Ihr Sturz ins Bodenlose vollzieht sich nicht, weil sie mit Jason das Goldene Vlies raubte und deshalb ihre Familie in Kolchis verraten hatte. Diese Vorgeschichte bleibt für Simon Stone rudimentär. Weitaus wichtiger: Médée verliert, vom Vater ihrer beiden kleinen Söhne verlassen, in Österreich ihre Aufenthaltsgenehmigung. Zur von Thomas Hengelbrock mit den Wiener Philharmonikern erregend akzentuierten Ouvertüre und danach füllen Schwarz-Weiß-Filme inhaltliche Grauzonen, die aus dem Verzicht auf Details der griechischen Sage entstehen. Die Mordserie des Mythos spielt keine Rolle, dafür Allzu-Menschliches: Médée und Jason führen am Festspielschauplatz und im Salzkammergut eine Bilderbuchehe mit Bilderbuchkindern und Bilderbuchhaus. Doch macht sich eine Andere breit im kleinen Paradies. Médée wird ausgewiesen.
Was treibt Eltern zum Mord an den eigenen Kindern? Stones Inszenierung entschuldigt die Mörderin nicht. Er zeigt alle Etappen vom Willen zur Versöhnung bis zum emotionalen Kontrollverlust. Diese Gegenwartstopographie mit einer hier nicht verteufelten Titelfigur wurde bei der Premiere gefeiert.
Rückkehr, Rache, Tod
Jede Kontaktaufnahme Médées zum Ex-Mann bleibt unbeantwortet. Mit Liegestreik ertrotzt sie sich auf dem Flughafen den Aufenthalt und Tourist-Status. Sie sticht den Vater der Braut ab und kidnappt die Söhne in der Uniform einer von ihr auf dem WC überwältigten Catering-Hostess. Ende des Migranten-Amoks: Vor den Augen einer fassungslosen Menge übergießt Médée den Fluchtwagen mit Benzin, bevor sich Jason auf sie stürzen kann. Anders als die mythologische Figur, die an anderen Orten Unheil stiften wird, bringt sich Médée mit den Kindern um.
Was für eine überbordende und dicht gedrängte Aktionsfülle! In Stones Filmen sieht man vor der malerischen Salzburger Altstadt Trennung und junges Glück. Film und Bühnenräume, bei denen Bob Cousins bis zu vier Schauplätze gleichzeitig setzt, verschwimmen in der unterhaltsamen Bilderflut. Stone macht über weite Strecken Theater mit cineastischen Mitteln. Da kann es schon vorkommen, dass man als Zuschauer in der personellen Fülle den Überblick verliert und auf der Bühne des Großen Festspielhauses nach dem szenischen Hauptmoment suchen muss. Zwei Kundinnen gibt es im Brautladen. Neben dem Begrüßungschampagner für das neue Paar bilden sich an der Hotelrezeption lange Warteschlangen, Herren in edlen Anzügen koksen. Mel Page liefert die eleganten bis passend protzigen Kostüme.
Doch die echt packenden Momente entstehen, wenn die emotionalen Trümmerhaufen unüberwindbar werden. Aus einem Fon-Shop vor den Grenzen zur EU telefoniert Médée mit Jason. Der hört ihr nur halb zu, weil die Neue in der Nasszelle ihre Reize enthüllt und die Jungs sich eine Kissenschlacht liefern. Später wartet Médée am Bus-Stop auf die Begegnung auf die hier omnipräsenten Söhne. Simon Stone zeigt mit Lust an visueller Opulenz die Schattenseiten der gegen Migranten abgeschirmten Komfortzonen. Wohlstand schützt nicht vor Angst: Rosa Feola sucht als Dircé die Zuneigung der beiden Söhne Iasons. Fast schade, dass Pavel Černoch als Mann zwischen den Frauen in den ‹Realszenen› weniger Nähe zu diesen zeigt als in den Filmen. Vitalij Kowaljow bewegt sich an einer nur diffus dargestellten Schnittstelle zwischen Politiker und Patron eines halblegalen Klein-Imperiums. Ist das prachtvolle Korinth der Sage eine ‹Russenmafia am Wörthersee›? Smartes Detail: Néris (Alisa Kolosova), Erzieherin der Kinder, wird zur Komplizin Médées. Dieses Ensemble hat dem Ruf Salzburgs bestens angemessenes Format und bleibt trotzdem neben der überragenden Interpretin der Titelpartie im Halbschatten.
Kein Weibsteufel
Denn Médée dominiert noch mehr als in der Originalfassung mit Dialogen. Simon Stone treibt die junge Russin Elena Stikhina in die von ihr intensiv und bravourös bewältigte Gesamtverantwortung. Anstelle der langen und deshalb die Proportionen zur Musik empfindlich gefährdenden Hexameter-Dialoge von François-Benoît Hoffman gibt es drei intensive Sprachnachrichten Médées auf Jasons Mailbox: Diese Erregungsakkumulation von Versöhnungsangeboten bis zum Racheruf sind plausibel mit jedem Wort der Schauspielerin Amira Casar. Fast genial also diese Zuspitzung schon lange vor dem von der Médée-Darstellerin fast im Alleingang gestalteten Schlussakt.
Dank vor allem auch durch Thomas Hengelbrock, der eine exorzierte Médée zeigt. Drohgebärden haben bei ihm die Huldigungs- und Hochzeitsszenen mit der von Ernst Raffaelsberger festspielwürdig präparierten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor. Die energisch phrasierenden Streicher und punktgenauen Crescendi Tutti-Akkorde der Wiener Philharmoniker garantieren einen nervös vibrierenden Abend, der dann einen musikalisch sehr individuellen Verlauf nimmt. Denn in der riesigen Partie gibt sich Elena Stikhina nicht mit Dämonie und Pathos zufrieden. Hier ist Médée vor allem ein lyrischer und seine Situation in klarer Selbstreflexion erfassender Charakter. Thomas Hengelbrock entwickelt Médées Soli mit konzertierender Eindringlichkeit und großer Liebe zum instrumentalen Detail. Das bedeutet eine Relativierung jener fast übermenschlichen Kontur, mit der Beethovens Lieblingsoper nach 1950 durch die radikale Identifizierung der Partie mit Maria Callas überlagert wurde. Dramatik entsteht hier dafür aus Elena Stikhinas faszinierenden Stimmfarben, ihrer bewundernswerten Dichte des Ausdrucks und ihren unbegrenzten Reserven. Für sie wäre es leicht, Simon Stones Aktionsreichtum mit vokaler Cholerik und outriertem Sportsgeist zu überholen. Doch sie triumphiert lieber mit einer in jeder Sekunde leuchtenden Präsenz. Es ist gerade ihre warm pulsierende und belcanteske Haltung, durch welche die Medea-Tragödie in Salzburg ihren unerbittlichen und bewegenden Verlauf nimmt.
Salzburger Festspiele
Cherubini: Médée
Thomas Hengelbrock (Leitung), Simon Stone (Regie), Bob Cousins (Bühne), Mel Page (Kostüme), Ernst Raffelsberger (Choreinstudierung), Stefan Gregory (Sounddesign), Nick Schlieper (Licht), Christian Arseni (Dramaturgie), Elena Stikhina (Médée), Pavel Černoch (Jason), Vitalij Kowaljow (Créon), Rosa Feola (Dircé), Alisa Kolosova (Néris), Tamara Bounazou (Première Femme), Marie-Andrée Bouchard-Lesieur (Deuxièrne Femme), Amira Casar (Sprachnachrichten), Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker