Heimliche Nationalhymne, musikalisches Ikon der politischen Einigkeitsbestrebungen des Risorgimento, mutmaßlich berühmtester Chor der Operngeschichte: Das im Pianissimo anhebende, im 12/8-Takt sich aufschwingende, gleichermaßen kunstvolle wie innig schlichte „Va pensiero“ summen die Italiener, die im Teatro Dante von Ravenna neben uns sitzen, sehnsüchtig mit.
Jedes Kind kennt hier die patriotischen Zeilen, die im Stiefelstaat bis heute identitätsstiftend wirken. Allein die Vereinnahmung durch die separatistische Lega Nord hat „Va pensiero“ auch einen schillernden Beigeschmack verliehen, der in Cristina Mutis Inszenierung anlässlich der Premieren-Trilogie mit Verdis „Nabucco“, „Rigoletto“ und „Otello“ freilich schnell vergessen ist.
Nabucco: Oper des märchenhaften „Es war einmal“
Vielmehr scheint eine Zeile des legendären Gefangenenchores, den Librettist Temistocle Solera einst verfasste, zum Ausgangspunkt der Inszenierung von Cristina Muti geworden zu sein. „Ci favella del tempo che fu!“, heißt es da in schönstem historischem Perfekt, wenn die Erinnerung an die verlorene Heimat mit den Worten heraufbeschworen wird: „Erzähle uns von den Zeiten von einst“. Auch ein märchenhaftes „Es war einmal“ klingt darin an, gespiegelt im jüdischen Schicksal der babylonischen Gefangenschaft.
Die unintellektuelle Direktheit schärft den Fokus auf die Musik
Ein berückend schönes Opern-„Es war einmal“ hat Cristina Muti nun im schnuckeligen Fünfrang-Theater ihrer Heimatstadt auf die Bühne gebracht. Und wir denken dabei zunächst geradewegs an den Gustav Mahler zugeschriebenen Satz „Tradition ist Schlamperei“, den Riccardo Mutis regieführende Gattin indes beherzt und handwerklich fundiert widerlegt.
In den videotechnisch höchst geschickt projizierten Orten der Handlung kommen alsbald Assoziationen zu 1001 Nacht auf. Die vor dem Zeitalter des deutschen Regietheaters allgegenwärtige Naivität der Oper hält hier Einzug und bewirkt etwas Erstaunliches. Oper als buntes Kostümkonzert ist auf einmal gar kein Schimpfwort mehr, sondern bewirkt eine musikalische Unmittelbarkeit, eine herrlich unintellektuelle Direktheit, die den Fokus der Wahrnehmung ganz auf die Qualität der Sänger und auf die urwüchsige kompositorische Kraft des jungen Verdi lenkt.
Verdis Musik kommt aus dem Bauch und der Lunge des Volkes
Eben diese stellt auch Maestro Alessandro Benigni in den Mittelpunkt. Am Pult des Orchestra Giovanile Luigi Cherubini verdeutlicht er, woher diese Musik kommt. Die Tradition der italienischen Banda-Blaskappellen, die Verwandtschaft einer Musik, die geradewegs aus dem Bauch des Volkes kommt, ja auch die Nähe zu Rossini wird hier wunderbar deutlich.
Die Sänger profitieren davon und stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Alessandra Gioia ist als Abigaille eine Sopranbombe mit maximalem dramatischen Furor. Evgeny Stavinsky adelt den Zaccaria mit seinem wohligen Basso cantante. Riccardo Rados schenkt dem Ismaele seinen gut geführten Tenor. Der junge Rumäne Serban Vasile singt die Titelpartie mit warm gerundetem Bariton.
Raffinesse der Lichtregie
Die Statik der Inszenierung scheint dem Sängerensemble durchweg entgegenzukommen. Spannung entsteht hier nicht durch Aktionismus. Cristina Muti setzt immer wieder lebende Bilder als Quasi-Zitate der Kunstgeschichte ein, die einen eigenen Reiz entfalten: zumal durch die Raffinesse der Lichtregie, die mit ihren Chiaroscuro-Wirkungen gar Assoziationen an einen Rembrandt oder Caravaggio evoziert.
Ravenna Festival
Verdi: Nabucco
Alessandro Benigni (Leitung), Cristina Mazzavillanti Muti (Regie), Davide Broccoli (Visual Design), Vincente Longuemare (Licht Design), Alessandro Lai (Kostüme), Orchestra Giovanile Luigi Cherubini, Coro Lirico Marchigiano „Vincenzo Bellini“