Als es Giuseppe Verdi längst zu Weltruhm gebracht hatte, stilisierte er sich gern als einfacher Mann: Dieser Bauer aus Roncole schreibt nebenbei Opern, die gar keine Kunst für die Gebildeten sein sollen, sondern geradewegs Volkes Stimme abgelauscht sind. Die erfolgreichen Ergebnisse dieses freilich vom Meister selbst geschickt überhöhten Prozesses gaben Verdi recht: Seine großen Chöre wurden nun ihrerseits zu ewigen Melodien, die heute noch jeder sizilianische Landwirt trällern kann. Und seine politische Ambition im Einsatz für die Einigkeitsbestrebungen des Risorgimento im seinerzeit jungen Italien luden seine Musik vollends auf. Verdis Kunst kam aus dem Leben und ging wieder ins Leben ein.
Die Opernfestspiele Heidenheim ermöglichen einen Perspektivwechsel auf eine angebliche Musik des Hm-Ta-Ta
Marcus Bosch setzt als Künstlerischer Direktor der Opernfestspiele Heidenheim in diesem Sommer nun gleich doppelt auf den jungen Verdi. Mit der Premiere des Frühwerks „I Lombardi“ schärft er den Volkston der Musik sogar auf exzeptionelle Weise. Denn die Cappella Aquileia ist ein Originalklangensemble, mit dem der Perspektivwechsel auf eine angebliche Musik des Hm-Ta-Ta tatkräftig gelingt. Denn Bosch schafft etwas Erstaunliches. Indem er die Musik beim Wort nimmt, deren Herkunft aus der Tradition der italienischen Banda – dem heute noch in der Provinz zu den traditionellen Festen aller Arten gepflegten Laienmusizieren der örtlichen Blaskapellen – hörbar macht, entsteht etwas Verblüffendes.
Die Rauheit, Schmissigkeit und Direktheit einer zur Kunst erhobenen Volksmusik teilt sich unmittelbar mit. Dazu wählt der scheidende Nürnberger Generalmusikdirektor forsche Tempi, schärft die Artikulation und den rhythmischen Drive. Er setzt indes Mittel ein, die kein plumpes Lauter und Schneller beinhalten, sondern den rhetorischen Figuren der Musik mit Liebe zum Detail und maximaler Präzision dienen. Die Cappella Aquileia wird so zum sprechenden Orchester, das feine Pianissimi (wie in der Ouvertüre) ebenso kennt wie gut abgemischte Farben, die vom grellen Aufschrei christlicher Wutbürger, die gegen den Islam zu Felde ziehen, bis zu den düsteren Farben des Mörders Pagano reichen, der uns hier bereits als Vorvater des blutrünstigen Macbeth erscheint.
Gefeierte Sänger erlauben das Vorhören auf „La Traviata“ und „Macbeth“
Gerade mit solchen klar herausgearbeiteten Bezügen leistet Marcus Bosch Aufklärungsarbeit. Denn erstens ist das Libretto der Kreuzfahrergeschichte gar nicht so krude, wie Experten oft meinen, und zweitens ist die Partitur genialischer Vorschein auf die Meisterwerke der mittleren Schaffensperiode. In der Figur der Giselda ist schon klar Verdis Violetta vorgebildet, einschließlich der multiplen vokalen Anforderungen, die Verdi an seine spätere Heroine stellen sollte: Von lyrischer Emphase über entgrenzende Koloraturen bis zur dramatischen Attacke muss die Sängerin der zentralen Sopranpartie alle Register ziehen.
Ania Jeruc ist denn auch als Giselda die große Entdeckung des Abends: Denn die polnische Sängerin verbindet Agilität und Expansionskraft auf stupende Weise. Ihr ebenbürdig ist Pavel Kudinow als sich vom Mörder zum Eremiten wandelnder Pagano, dessen virile wie eloquente Basswucht so imposant ist wie der Tschechische Philharmonische Chor Brünn, der als Festspielchor einmal mehr höchste Maßstäbe setzt.
Das Private als Keimzelle des Politischen
Regisseur Tobias Heyder ist man am Ende besonders dankbar für genau das, was er gerade nicht tut: die Geschichte als platten Kampf der Kulturen mit Anspielungen auf Flüchtlingskrisen und Religionskriege zu erzählen. Vielmehr setzt er das Private vor das Politische, entdeckt im Privaten die Keimzellle des Poltischen.
Die klassische Dreiecksgeschichte (zwei Brüder wollen mal wieder dieselbe Frau) gelangt in den Fokus, wird psychologisch nachvollziehbar gemacht, kittet so auch die Inkongruenzen des sprunghaften Librettos. Im besten Sinne öffnet der Regisseur Räume für die Musik, die in der Tat so viel stärker ist, als das Vorurteil vom schlicht gestrickten jungen Verdi uns weismachen will.
Opernfestspiele Heidenheim
Verdi: I Lombardi
Marcus Bosch (Leitung) , Tobias Heyder (Regie), Janina Werthmann (Kostüme), Hartmut Litzinger (Licht), León de la Guardia, Pavel Kudinow, Anna Werle, Ania Jeruc, Daniel Dropulja, Christoph Wittmann, Andrew Nolen, Marian Talaba, Kate Allen, Capella Aquileia, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn
Der Regisseur Tobias Heyder von „I Lombardi“ bei den Opernfestspielen Heidenheim stellt sich vor: