Seit Friedrich Nietzsche feststellte, Gott sei tot, müssen wir allzu menschlichen Menschen die Projektionen unserer Perversionen, heimlichen Wünsche und Hoffnungen nicht mehr auf wahlweise himmlische oder höllischen Kulissen richten. Im Hier und Jetzt werden sie nun ausgelebt, analytisch ausgeleuchtet und freudianisch ausgedeutet. Unschuldige Engelein wie böse Hexen brauchen nun keine Flügel respektive Besen mehr. Alltägliche Menschlein übernehmen deren Aufgaben.
Arrigo Boito, der seinem Kollegen Giuseppe Verdi als Librettist zu dessen größten Meisterwerken „Otello“ und „Falstaff“ verhalf, war ein Komponist von eigenem Recht, der die Zeichen der Zeit im Nietzsche-Sinn erkannt haben muss. Denn nicht mehr den auf der Opernbühne allzu oft als ziemlich langweiligen Tenor-Warmduscher daherkommenden Faust stellt er in den Mittelpunkt seines hybriden, auf Goethe fußenden Meisterwerks, sondern den Verführer Mephisto, diesen schamlosen Erotiker und Komiker zugleich, dessen bassvirile Ausstrahlung nicht nur die Damen im Publikum ohne Umschweife in ihren Bann zieht.
Pandämonium statt Gottesreich
La Fura del Baus-Regisseur Àlex Ollé hat für seine Neuinszenierung an der Opéra de Lyon, die jetzt mit „Mefistofele“ ihre Saison glorreich eröffnete, offenbar Nietzsche gelesen. Und Gott aus seinem Inszenierungskonzept verbannt. Goethes und Boitos Prolog im Himmel gleicht eher einem Pandämonium denn einem Gottesreich, der fulminante Chor muss für seine Rollenwechsel von den Cherubin des Anfangs zu den Teilnehmern einer A tergo-Sexorgie des Hexensabbat gar keine großen Verwandlungen durchmachen. Gut und Böse war einmal, wir alle sind alles, Engelchen und Teufelchen, Verführer und Verführte, Täter und Opfer.
Àlex Ollés Drastik der Bilder scheint mit jener seines Landsmanns Calixto Bieito durchaus verwandt. Da reißen ihm, nachdem Mefistofele seinerseits einige Kinder-Cherubinen abgestochen hat, die erwachsenen Engel das Herz aus dem Leib. Da wird das schuldige Unschuldslamm Margherita auf einer Art elektrischem Stuhl ins Jenseits befördert, um Minuten später als Verkörperung der antiken Schönen Helena wiedergeboren zu werden. Da fallen zuvor bereits beim Osterspaziergang, der einem besseren Betriebsausflug der Werktätigen gleicht, durchweg flugs die Hüllen.
Mefistofele: Krasses Bildertheater statt penible Personenregie
Kurz gesagt: Àlex Ollé erfindet starke wie extradeutliche Bildwelten, die in Lyon dem jugendlichen Publikum besser zu gefallen scheinen denn den arrivierten Opernfans. Dabei ist er als Erfinder eines krassen Bildertheaters besser denn als psychologisch präziser Gestalter von Personenregie. Besonders die bei den Salzburger Festspielen bereits hochgelobte junge Russin Evgenia Muraveva als Margherita wirkt in ihrer Sterbeszene ziemlich allein gelassen. Und da sie ihre herbe Sopranschärfe in ihrer großen Arie – eine Signetarie der Callas – nicht durch in der Mittellage fundierte Expansionskraft ausgleicht, berührt uns der Tod der Margherita verblüffend wenig.
Deutlich mehr in ihrem Element ist sie vokal wie szenisch hernach als Elena, da liegt die Tessitura für sie deutlich angenehm höher. Paul Groves, ein bedeutender Mozartsänger, gerät als intellektuell steifer Forscher-Faust in seiner Facherweiterung auch an seine Grenzen. Das Überströmende im Duett-Hit „Lontano, lontano“, wie es einem Pavarotti, der Mefistofele eingespielt hat, zu eigen war, fehlt Groves. Umso deutlicher begeistert die Bassmacht des John Relyea in der Titelpartie. Er mag nicht die extreme erotische vokale Verführungskraft besitzen wie einst ein Samuel Ramey, doch seine gewaltige, durch Körperresonanzen gestählte Stimme macht in jedem Aufeinandertreffen mit Faust deutlich, wer denn die Fäden des Dramas in Händen hält.
Daniele Rustioni balanciert Kantabilität und Überwältigung, südliches Melos und nordische Klarheit ideal aus
Zu einem wirklich großen Opernabend wird die Neuproduktion freilich durch Daniele Rustioni, sein Orchester und seinen Chor. Der junge italienische Musikchef in Lyon balanciert Kantabilität und Überwältigung, südliches Melos und nordische Klarheit ideal aus. Arrigo Boito, der Germanophile, verbeugt sich schließlich in „Mefistofele“ vor Goethe und amalgamiert dazu die Musiksprachen der Antipoden Verdi und Wagner in einem gleichwohl ganz eigenen Personalstil. Die „Lohengrin“-Anklänge sind so deutlich hörbar wie jene an den „Freischütz“. Boitos melodische Erfindungsgabe bleibt dabei zutiefst in der Tradition seiner Heimat verbunden.
Daniele Rustioni arbeitet die diversen Schichten der Partitur mit lustvoller Exaktheit heraus. Druckvoll und passionsprall lotet er die multiplen Steigerungszüge der Chöre aus, die in Lyon mit einer wonnevollen Wucht und Qualität von Weltgeltung gesungen werden. Am Ende schneidet Mefistofele zwar Faust die Gurgel durch. Die leitmotivische Wiederkehr des „himmlischen“ Chors der Liebe setzt seiner Tat indes ein musikalisches Zeichen entgegen: Die freilich absolut irdischen Heerscharen verschlingen Mefistofele in den Sieg.
Opéra de Lyon
Boito: Mefistofele
Daniele Rustioni (Leitung), Àlex Ollé (Regie), Alfons Flores (Bühne), lluc Castells (Kostüme), Urs Schönebaum (Licht), John Relyea, Paul Groves, Evgenia Muraveva, Agata Schmidt, Peter Kirk, Orchester & Chor der Opér de Lyon
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