In Norddeutschlands Musiktheaterwelt passieren in dieser Saison erstaunliche Dinge an zwei mittelgroßen Häusern, in Bremen und Braunschweig: In Bremen hat man einen musikalischen Opernchef gefunden, dessen leidenschaftliche und fordernde Art des Musizierens noch die fragwürdigste Inszenierung vergessen lässt. Yoel Gamzou heißt der Mann. Und seine Dirigate von Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“, Bizets „Carmen“ und Johann Strauss› „Fledermaus“ gerieten so unter die Haut gehend oder mitreißend, dass man bei der „Fledermaus“ trotz einer Inszenierung, die den Namen nicht verdient, manchmal schon an Carlos Kleiber denken musste.
Wie dieser Dirigent das Bremer Orchester zu einem Wiener Johann Strauss Orchester der besten Art gemacht hat, das war spektakulär. Trotzdem finden die Aufführungen von „Fledermaus“ und „Carmen“ vor teilweise erschreckend leeren Rängen statt, weil zu wenige Menschen Inszenierungen sehen wollen, in denen die Stücke nicht einmal mehr ansatzweise erkennbar sind.
Norddeutsches Fernduell: Wer kann Operette besser?
Musikalisch ähnlich, szenisch aber ganz anders die Situation an der Braunschweiger Oper. Dort hat man zwei musikalische Leiter, die in ihren Fähigkeiten weit über das hinaus gehen, was man an einem Haus dieser Größe erwarten kann, Srba Dinic als Chefdirigent und Ivan Lopez Reynoso als dessen Stellvertreter. Aber dort stellen sich alle Regisseure nicht über die Werke, sondern versuchen, diesen mit oftmals sehr eigenwilligen Mitteln zu optimaler Wirkung zu verhelfen.
Da gibt es manchmal zwar auch szenisch blasse Aufführungen, aber in der Mehrheit ambitionierte Produktionen, die sehr wohl die Stücke selbst in den Mittelpunkt stellen und nicht beliebige Regisseursideen. Richard Strauss› „Elektra“ wurde so unter Dirigent Dinic und in der Regie Adriana Altaras zu einem erschütternden Erlebnis, aber auch der Doppelabend mit Stücken von Salvatore Sciarrino und Kurt Weill gelang auf hohem Niveau.
Selten so viel geschmunzelt und gelacht wie bei Schostakowitsch
Und nun folgte eine musikalische Komödie der besonderen Art, Dmitri Schostakowitschs „Moskau, Tscherjomuschki“, eine Art Sowjetoperette mit Anklängen an Offenbach, Lehár, Puccini, Weill, vor allem aber an Volks-, Film- und Salonmusik. Um es vorweg zu sagen: Die Premiere wurde zu einem brillanten, sowohl knalleffekt- wie ironiegesättigten Spektakel, das bestens unterhielt und gute Laune vermittelte. Selten so viel geschmunzelt und gelacht im Musiktheater.
Groschenroman-Sprache des sozialistischen Realismus
Das ungewöhnliche Stück von Schostakowitsch erzählt total Banales zum Thema Wohnungssuche und Bestechung im sowjetischen Sozialismus verbunden mit einer sehnsuchtsgetränkten Liebesgeschichte in einer Sprache von, vorsichtig ausgedrückt, größter Schlichtheit ist, die automatisch den Gedanken aufkommen lässt, dass das doch kaum erst gemeint sein könne. Die von sozialistischem Realismus geprägte Groschenroman-Sprache ist offensichtlich ein Zugeständnis an Schostakowitschs politisches Umfeld, weshalb man sie nicht wirklich ernst nehmen kann oder so ernst nehmen muss, dass man sie damit zugleich ironisiert.
Wenn tatsächlich davon gesungen wird, dass eine von Staatsseite zugewiesene Wohnung eine Toilette hat, dann ist eine Diskrepanz zwischen dem Kunstcharakter des Stückes und inhaltlicher Alltagsbanalität erreicht, die der Regie allerlei Möglichkeiten eröffnet, daraus Funken zu schlagen. Und Regisseur Neco Çelik macht das meisterhaft.
Ein Meister-Regisseur mit Mut zum Extrem
Er lässt keinen Moment unversucht, mit sinnlichen Reizen, Übertreibungen und karikierendem Spiel die ohnehin schon abstruse Handlung noch mehr ins Extrem zu treiben. Und das macht offensichtlich allen einen riesigen Spaß. Dass dabei auch noch weitgehend gut, manchmal sogar sehr gut gesungen wird, das unterstreicht das Niveau der Abends noch zusätzlich. Und Dirigent Reynoso erweist sich zwar als ein manchmal in der Lautstärke zu weit überdrehender Musiker, aber die Prägnanz und spürbare Lust des Musizierens lässt derlei leicht vergessen. Dafür formt er die Details der Musik in einer Weise aus, dass die Ohrwürmer genauso zur Wirkung kommen wie das Knallige volksmusikalisch geprägter Bläsersätze oder die dezente Lässigkeit filmmusikalischer Passagen.
Die Produktion hat das Zeug zum Publikumsrenner
Erwähnenswert ist auch noch etwas ganz Anderes: Da sich die künstlerisch Verantwortlichen offensichtlich von vornherein darüber im Klaren waren, dass das Stück immense dramaturgische Schwächen hat und einfach kein Ende finden will, wird genau dieser Umstand dann zum Thema der letzten Szenenfolge gemacht. Alle drehen noch einmal auf, was die Stimmen und die Bühnentechnik samt virtuos genutzter Videotechnik (Vincent Stefan) so hergibt.
Das Ergebnis ist die Ehrenrettung eines Stückes, das musikalisch starke Nummern hat, aber dramaturgisch eigentlich nicht funktionieren kann, wenn man es nicht mit so viel Kreativität wie hier schafft, das Publikum darüber hinweg zu täuschen: Eine überragende Aufführung, die das Zeug hat zum Publikumsrenner. Unbedingt eine Reise wert.
Staatstheater Braunschweig
Schostakowitsch: Moskau, Tscherjomuschki
Iván López Reynoso (Leitung), Neco Çelik (Regie), Stephan von Wedel (Bühne), Valentin Köhler (Kostüme), Georg Menskes (Chor), Vincent Stefan (Video), Maximilian Krummen, Milda Tubelytė, Andreas Mattersberger, Ekaterina Kudryavtseva, Vincenzo Neri, Matthias Stier, Ivi Karnezi, Michael Eder, Carolin Löffler, Eugene Villanueva, Staatsorchester Braunschweig, Chor des Staatstheaters Braunschweig