Opernregisseure sind enge Verwandte der Archäologen. Während letztere ganze versunkene Städte oder zumindest Artefakte von der Lava reinigen, die sich einst auf sie ergossen hat, legen erstere Partituren frei, deren Gestalt und Gehalt vom Staub der Tradition überdeckt ward. Inszenieren gleicht somit dem Freilegen des Ursprünglichen, wobei das Ergebnis selten strikte Werktreue sein kann. Nach dem Freilegen folgt mitunter das Übermalen oder gar das noch stärkere Zur-Kenntnis-Entstellen. Zurück zu den Müttern und Väter der Werke zu gelangen, ist kein rein demütiger Akt. Das Freilegen gelingt mal mit feinerem, mal mit gröberem Pinsel, ein Experiment mit Mut zum Scheitern ist und bleibt es allemal. Zumal Festivals sollten offen für archäologische Experimente sein, wie Intendant Serge Dorny mit Verve betont. Das Frühjahrfestival seiner Opéra de Lyon gleicht in diesem Jahr im besonderen einer Ausgrabungsstätte. Die Eröffnungspremiere mit Tschaikowskys „Die Zauberin“ glich einer Sensation.
Was wird man einst von uns erinnern? – Die Erfindung des Smartphones!
Tags darauf folgte nun eine Neubetrachtung von „Dido and Aeneas“, die nicht allein dem begrenzten Material der Oper vertraute, sondern durch auf Purcell reagierende ergänzende Kompositionen des finnischen Gitarristen Kalle Kalima erweitert wurde. Der überschreibt und überlagert die Originalpartitur mit sanften und oft cleveren Verfremdungen, greift musikalische Motive auf und spinnt sie im Geiste der Gegenwart weiter, holt den Mythos an uns heran. Besonders originell ist das Verfahren zu Beginn, wenn nicht etwa Purcells Ouvertüre erklingt, sondern an Wagners Nibelungenszene in „Das Rheingold“ erinnernde hämmernde Geräusche.
Passend dazu sehen wir auf der Bühne Archäologen bei der Arbeit, die verkrustetes Menschenwerk mit ihren Hämmerchen freizulegen suchen. Und was kommt zum Vorschein der über Video an unser Auge heran gezoomten Sandkiste für Erwachsene? Ein Smartphone! Eine nette Pointe des Teams um Regisseur David Marton und Bühnenbildner Christian Friedländer. Sie wählen Didos welterweichendes abschiedsschmerzendes „Remember me“ ihres großen Lamentogesangs als Bild der gesamten Inszenierung und fragen: Was wird einst von uns bleiben? Wie wird man sich an uns erinnern?
Antiker Müll der Moderne
Etwa an so große zivilisatorische Errungenschaften wie das internetfähige Telefon oder die Computer-Maus? Allerhand Müll der Moderne wird da also ausgegraben – dazu im übertragenen Sinne aber auch der Mythos von der transkulturellen Liebe von Dido und Aeneas. Die Geschichte jenes Paars, deren Beziehung nach dem ersten Duett auch schon wieder beendet ist, weil Mann zu neuen Taten abberufen wird – sie interessiert Marton mitnichten. Am Ende lässt er den ganzen ollen Ballast der Story wieder im Sand einbuddeln. Wenigstens behält dann Purcell das letzte Wort mit dem wunderbar innig gesungenen, von Maestro Pierre Bleuse intensitätssteigernd verlangsamten finalen Chor.
Minder- statt Mehrwert – Läppische Regieeinfälle
Doch zwischen dem archäologischen Aus- und Eingraben von Beginn und Ende des auf über zwei Stunden gestreckten überlangen Abends lässt sich Marton eine nur läppische, selten auch mal witzige Antikenausbeutung einfallen, die zwischen Mythos und Zeitgenossenschaft zu vermitteln trachtet, nur leider so gar nichts Erhellendes dazu beiträgt. Die Erweiterung der Sängerriege durch die kalifornische Jazz-Sängerin und Performance-Künstlerin Erika Stucky ist als netter Einfall zunächst apart, bringt nur keinen ästhetischen oder dramaturgischen Mehrwert. Die Erweiterung Purcells zum abendfüllenden Werk füllt keine Leerstellen, sie nimmt ihm mehr, als dass sie etwas Sinniges hinzufügte. Stark Momente bleiben nur da, wo Purcell pur praktiziert wird, so nicht zuletzt in Didos Arie „When I am laid in Earth“, die Mezzo Alix Le Saux anrührend singt. The Rest is Silence und ziemlich viel quälende Langeweile.
Opéra National de Lyon
Purcell/Kalima: Dido and Aeneas, remembered
Pierre Bleuse (Leitung), David Marton (Regie), Pola Kardum (Kostüme), Johanna Kobusch (Dramaturgie), Alix Le Saux, Guillaume Andrieux, Claron McFadden, Erika Stucky, Marie Goyette, Thorbjörn Björnsson, Adrien Lamande, Orchestre et Chœurs de l’Opéra de Lyon