Ob Carmen oder Salome, Butterfly, Tosca oder Turandot: Die großen titelgebenden Frauengestalten der Operngeschichte sind allesamt Männerhirnen entsprungen. Sie gleichen Projektionen dessen, wie denn das starke Geschlecht das schöne Geschlecht allzu gern sehen will – mal als Femme fragile, mal als Femme fatale. Klischeehafte Verengungen sind da eher die Regel denn die Ausnahme. Und das Ende der ziemlich heldinnenhaften Tragödinnen (triumphale Siegerinnen dürfen die Damen ja nur selten sein) ist zumeist der Tod – ob selbstgewählt oder durch die harte Hand der Männer brutal bewirkt. Gegenwärtige gesellschaftliche Debatten um Geschlechtergerechtigkeit schärfen das Bewusstsein für die Einseitigkeiten von derlei Frauenbildern. Eine neue Oper, die ein Frauenschicksal in den Fokus rückt, wird sich da zwingend frei machen müssen von den Stereotypen der Vergangenheit – auch und gerade, wenn sie sie sich, wie nun an der Opéra de Lyon, mit einer Legende aus märchenhaften Zeiten auseinandersetzt: dem Liebesleben der armenischen Prinzessin Shirine, wie es seit dem 12. Jahrhundert durch Überlieferungen aus der persischen Hochkultur erzählt und wiedererzählt wird.
Eine frühe moderne Frau
Thierry Escaich hat sich nun an der Opéra de Lyon, nach seinem Opernerstling „Claude“ am selben Ort, dem Stoff des persischen Dichters Nezâmî angenommen. Von letzterem wurde das Libretto des afghanisch-französischen Schriftstellers und Cineasten Atiq Rahimi inspiriert. Es erzählt in französischer Sprache die Geschichte der unmöglichen Liebe zwischen Khosrow, des Prinzen und späteren kühnen Königs von Persien, und Shirine, einer ebenso aus bestem Hause stammenden christlichen Prinzessin aus Armenien. Doch anders als in den seit den Urzeiten der Gattung Oper verarbeiteten transkulturellen wie tödlichen Liebesbeziehungen zwischen Kreuzrittern und Sarazeninnen ist diese Shirine eine verblüffend moderne Frau. Sie erleidet nicht passiv ihr Schicksal als Objekt männlicher Begierden, vielmehr lebt sie ihr nicht zuletzt erotisches Frausein allzu selbstbestimmt und frei. Gleich zu Beginn der Oper zeigen die Autoren die nackt badende Prinzessin, die sich den Blicken des persischen Thronfolgers keineswegs keusch entzieht. Richard Brunel, der die Uraufführung als regieführender Intendant verantwortet, verweigert dem Premierenpublikum hier freilich den potentiell voyeuristischen (männlichen) Blick durchs Schlüsselloch und setzt sogleich ein starkes Zeichen, das vom Einzelschicksal der Shirine auf das Elend ihres Geschlechts in allen Zeiten verweist. Denn gleich sieben Damen stehen nach dem irisierenden initialen Glissando vorn an der Rampe und zeigen uns ihre zugenähten Münder, von denen einer auch auf der Wand der Drehbühne als Projektion erscheint. Will sagen: Es wird in dieser Oper um die Vision der freien Frau gehen, für die Shirine eines der ganz frühen Beispiele bildet.
Geschlechterbilder im Spannungsfeld von Realität und Idealität
Freiheit heißt für die legendenhaft mysteriöse Schöne, sich zwischen gleich vier Männern entscheiden zu müssen, respektive gerade eben dies eben nicht zu tun. Denn neben dem scheinbar wichtigsten Verehrer Khosrow, der ihre Widerständigkeit durch die Einverleibung in sein Harem im Zuge des klassischen Mechanismus männlicher Machtausübung brechen will, stehen drei weitere Herren. Zwei davon sind nicht zufällig Künstler: Farhâd, der Steinhauer, meißelt sich so sehr ein eigenes Bild der Geliebten wie Chapour, der Miniaturenmaler, der seine Liebe nicht mündlich ausdrücken kann, sondern in der persischen Kultur fest eingeschriebenen Bildenden Kunst verewigt. Letztere idealisiert indes: Die Liebe wird ja nicht wirklichkeitsnah wiedergegeben, sondern in traumhafter Überhöhung und Stilisierung übersetzt. Die Faszination des schönen Bildes und das reale Dasein der konkreten Person im Hier und Jetzt werden in der Oper zum Spannungsfeld von Realität und Idealität. Hinzu tritt noch ein Vierter, der das Epos zum Konflikt der Generationen weitet: Denn auch Chiroya, der Sohn von Khosrow, verliebt sich in Shirine und wird am Ende wie im griechischen Mythos zum Vatermörder.
Avanciert assoziationssensibel
Überhaupt folgen Thierry Escaich und sein Librettist in ihrem neuen Opus klassischen Modellen. Denn auch der Chor übernimmt die Funktionen des Beobachters und Kommentators des Geschehens, wendet die Einzelerzählungen so ins Allgemeingültige. Kompositorisch bewundert man das profunde Handwerk des französischen Organisten, der die orchestrale Farbpalette in anregenden Valeurs abmischt. Er meidet dabei jegliche expressionspralle Pranke, man meint mitunter, er denke Debussys impressionistischen Andeuten und Verschleiern in die Gegenwart fort. Avanciert assoziationssensibel und für die Ohren des Publikums fasslich ausgehört tönen zumal seinen extrazarten Piani und Pianissimi, in denen er zumal die Holzbläser sensibel aufeinander einstimmt. Orientalisch anmutende Achtel- und Vierteltöne webt er ohne jede anmaßende exotische Geste, sondern mit Feingefühl in das Netz seiner Töne ein. Wortlose Melismen zumal für seine weibliche Hauptfigur stärken das Zauberhafte der Shirine als gleichsam natürliche Zutat und so gar nicht als Klangklischee der westlichen Vereinnahmung.
Clarté und Farbenmagie
Geschrieben hat Thierry Escaich die Parts dezidiert für junge und für lyrische Stimmen, die freilich allesamt eine subkutane Sogkraft von ganz eigener innerer, aber stets intensiver Dramatik entfalten. Jeanne Gérard steht mit ihrem drahtigen und edlen, alle Lagen traumwandlerisch durchmessenden Sopran an der Spitze des famosen Ensembles und macht im feschen Hosenanzug (Kostüme: Wojciech Dziedzic) die Bella figura einer frühen Emanzipierten. Julien Behr, ein Mozarttenor von Gnaden, steigert sich als Königssohn Khosrow zu eindringlichem Schmelz. Der ein Pferd aus dem Felsen schlagende Farhâd des Florent Karrer bringt seine aufregend virile Baritontimbre mit Verdi-Erfahrung und eine bezwingende Präsenz auf die Bühne. Charakterstark und eloquent auch sein Baritonkollege Jean-Sébastien Bou als introvertierter Liebeskonkurrent Chapour. Einmal mehr auf der Höhe das Orchester der Opéra de Lyon unter Franck Ollu, das sich mit Clarté und Farbenmagie für die starke Partitur ins Zeug legt.
Zwischen Sagen und Verhüllen: von der Dialektik des Benennens und Andeutens
So merkt man in jedem inspirierten Takt, wie sehr sich Thierry Escaich auf das gleichzeitige Sagen und Verhüllen, ja die Dialektik von Benennen und Andeuten versteht. So erzeugt er in den 110 pausenlosen Minuten einen Schwebezustand, der zum Eintauschen, Lauschen und Staunen verführt. Die Inszenierung von Richard Brunel folgt ihm dabei kongenial, hält imaginativ poetisch offen, wie es mit dieser großen Frauengestalt am Ende ausgeht. Stirbt sie? Wird sie in der Kunst verewigt? Die Drehbühne von Etienne Pluss ermöglicht dazu den fließenden, gern surrealen Szenenwechsel der weiblichen und männlichen Seins- und Herrschaftsbereiche. Das Licht von Henning Streck taucht das Geschehen in ein plastisches Chiaro-Scuro. Brunels Personenführung überbrückt unaufdringlich die Zeiten zwischen altem Persien und Gegenwart und thematisiert, wie Frauen und Männer sich ein Bild voneinander machen – und sich mit dem wechselseitigen Projizieren, und sei es noch so kunst- und phantasievoll, immer wieder haarscharf in ihrem wahren Sein verpassen. Die persische Kulisse, die in den Kostümen von Wojciech Dziedzic akzentuiert wird, ist bei alledem die kaum merkliche Travestie als Verlegung des eigenen Erlebens und Erleidens in eine fremde Welt.
Opéra de Lyon
Escaich: Shirine
Franck Ollu (Leitung), Richard Brunel (Regie), Etienne Pluss (Bühne), Wojciech Dziedzic (Kostüme), Yann Philippe (Video), Henning Streck (Licht), Jeanne Gérard, Julien Behr, Jean-Sébastien Bou, Madjouline Zerari, Théophile Alexandre, Laurent Alvaro, Florent Karrer, Stephen Mills, Orchester und Chor der Opéra de Lyon