Die heimliche Hauptrolle in dieser berührenden, vom französischen Publikum nach vier langen Barockopernstunden und unzähligen Da-Capo-Arien enthusiastisch gefeierten Händel-Anverwandlung spielt eine Figur, die nicht einen Ton zu singen hat. Es ist Rodelindas kleiner Sohn Flavio, der in Claus Guths Inszenierung nicht nur auf der Bühne omnipräsent ist. Denn die kindlichen Bilder, die der Knabe malt, werden zudem immer wieder auf den weißen klassizistischen Palazzo projiziert, den Christian Schmidt ersonnen hat und den wir dank der Drehbühne von gleich drei Seiten bewundern: Da sind die zwei übereinander liegenden Zimmer des großbürgerlichen Heims, das Treppenhaus und die Vorderansicht.
Poetische Plausibilität aus der Perspektive eines Kindes
Die Handlung der Oper nun gleichsam aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, schenkt dem Abend enorme Poesie, hilft über manche für die barocke Opera seria genretypische Verworrenheit hinweg und bringt im Ergebnis dann sogar unerwartete Plausibilität ins politische Intrigenspiel, denn Flavio, der stumme Beobachter der Machenschaften, spricht in seinen vollkommen ehrlichen Kinderbildern und den darin zum Ausdruck kommenden Sehnsüchten und Wahrheiten all die Zusammenhänge aus, von denen die politisch korrekten wie korrupten Erwachsenen schweigen müssen.
Die Familie als der Nukleus für alle Machtspiele der Welt
Claus Guth entdeckt durch diesen geschickten Kunstgriff der scheinbaren Verkleinerung der Geschichte eine einfache Grundwahrheit: Die Familie ist der Nukleus für alle Machtspiele der Welt. In ihr beginnt nicht nur das Lieben und das Hassen, sondern auch die Bildung von Allianzen, die Neusortierung von Kräfteverhältnissen, die Verschiebung von Macht. Nach dem angeblichen Tod des Familienoberhaupts (im Libretto: des Königs) Bertarido steht seine Gattin Rodelinda im Fokus der familiären Machenschaften. Denn ihr Schwager Grimoaldo will sie nun zur Frau nehmen.
Sein fieser, hier offensichtlich körperlich behinderter Freund Garibaldo unterstützt ihn dabei – wiederum mit massiven eigenen Interessen: Er will durch eine Verbindung mit der dann freiwerdenden Eduige, der Schwester des Königs, seinerseits in die reiche Familie einheiraten. Nach allerhand Verwicklungen, während der Bertarido, der Totgeglaubte, in die Familie zurückkehrt und zunächst wie Florestan in den Keller des Hauses gesperrt wird, gibt’s natürlich ein Happy End aller überlebenden Protagonisten – mit Händel-typischem integrativem Chorfinale.
Happy End mit kindlichem Fragezeichen
Die angebrachten Zweifel, ob denn nun aber wirklich alles gut, inszeniert Claus Guth wiederum galant und aus der Perspektive Flavios mit. Denn während die Sänger sich durfreudig dem Lieto fine hingeben, tauchen erneut die mit übergroßen Köpfen – so „sieht“ der malende Flavio seine erwachsene Umwelt – ausgestatteten Doppelgänger der Hauptfiguren auf: Die Großköpfigen gehen bereits wieder munter mit Messern aufeinander los.
Und wir ahnen: Das Intrigenspiel wird niemals enden, auch wenn Flavio, der als bebrillter blonder Knabe wie ein alles und jeden durchschauender Harry Potter daherkommt, dann einst selbst König sein wird. Eben diese Rolle probiert er im kindlichen Spiel auch schon mal aus: mit einer Papierkrone, die er sich selbst auf den Kopf setzt, um den Bösewicht-Onkel Garibaldo doch einfach mal abzuknallen. Was sein rächender Vater am Ende der „echten“ Opernhandlung dann in der Tat nachholt.
Händel in seiner ganzen Großartigkeit
Selten geht die Verschaltung zweier Erzählebenen so perfekt auf und lässt dabei dennoch jene entscheidenden Freiräume in den Köpfen und Herzen des Publikums entstehen, die es braucht, um Händel in seiner ganzen Großartigkeit zu genießen. Denn gerade der Musik lässt Claus Guth in dieser eigentlich enorm geradlinigen, schnörkellos klaren und mätzchenfreien, dabei aber auch wirklich kunstvollen, subtil humorigen und imaginativen Regiearbeit den ihr gebührenden Raum.
Und die Musik ist in Lyon in besten Händen. Stefano Montanari inspiriert das Orchestre de l’Opéra de Lyon zu einer Händel-Geschmeidigkeit in ausgeprägter Feinzeichnung und Farbkraft. Er modelliert die Musik mit Hingabe, ist kein Barock-Extremist der Akzent-Übertreibungen, sondern ein genuin dramaturgisch denkender Dirigent, der etwa das durch die Regie sanft gebrochene Happy End durch das manische Tempo des Schlusschores unmittelbar beglaubigt.
Rodelinda: Musikalische Magie
So manches Arienwunder der sich an Originalität und Schönheit stetig steigernden Partitur ließe sich herausheben. Doch der Höhepunkt der musikalischen Magie ist ausgerechnet das einzige große Duett, das Händel hier für die sich in höchster Wonne der Anagnorisis wiedergefundenen Liebenden Rodelinda und Bertarido ersonnen hat: „Io t’abbraccio“ („Ich umarme Dich“).
Ganz viel vokalagile Sopranraffinesse legt Sabina Puértolas in ihre Rodelina, mit berückender sahniger Weichheit, in seiner Schlussarie aber auch mit dramatisch durchpulsten Koloraturen adelt Lawrence Zazzo den Bertarido. Lyrische Tenorwärme verströmt Krystian Adam als Grimoaldo. Eine mit viel Stimmerotik aufwartende Mezzoentdeckung ist die junge Avery Amereau als Eduige. Etwas baritonsteif gibt Jean-Sébastian Bou den bösen Garibaldo. Und ein Besetzungsgeheimnis muss zum Ende doch noch gelüftet werden: Flavio, die heimliche Hauptrolle, wird von dem kleinwüchsigen Schauspieler Fabián Augusto Gómez Bohórquez mit täuschend echter Bewegungssprache eines Kindes gegeben.
Opéra de Lyon
Händel: Rodelinda
Stefano Montanari (Leitung), Claus Guth (Regie), Christian Schmidt (Bühne & Kostüme), Sabina Puértolas, Lawrence Zazzo, Krystian Adam, Avery Amereau, Jean-Sébastian Bou, Christopher Ainslie, Fabián Augusto Gómez Bohórquez, Orchester der Opéra de Lyon