Der deutsche Diktator liebte die Oper (zumal jene von Richard Wagner, aber die Operette ganz besonders), und er wusste sie propagandistisch zu nutzen. Zumal die Bayreuther Festspiele, bei denen er gleichsam zur Familie gehörte, haben sich nie so ganz von dieser unseligen Nähe erholt. Aber taugt Adolf Hitler auch zur Figur einer Opernhandlung? Zu den ungeschriebenen Regeln des Opernbetriebs gehört bislang das Verbot: Hitler geht gar nicht. Was das Medium des Films darf und kann, das muss im Reiche des Musiktheaters scheitern. Zu sehr emotionalisiert die Oper, zu deutlich bietet sie Identifikationspotenziale selbst mit den abscheulichsten Gestalten. Gerade die besonderen Bösewichter erhalten oft den größten Applaus. Mephisto, Scarpia, Alberich und Macbeth werden auf der Opernbühne zu Menschen, die verführen, missbrauchen und schlachten, aber die dennoch unsere Anteilnahme herausfordern. Die Magie der Musik macht es möglich.
Der Mut zu einem genuin politischen Spielplan prägt die ganze Saison
Aber Adolf Hitler? Darf man ihm den roten Opernteppich ausrollen? Und wenn ja: Was gilt es dabei tunlichst zu beachten? Hilft die Überzeichnung ins Fratzenhafte, Skurrile, Absurde? Lässt sich dazu von Chaplins „Der große Diktator“ lernen? Im mutmaßlich mutigsten, dramaturgisch ambitioniertesten Spielplan eines internationalen Opernhauses war nun nach der szenischen Deutung des „War Requiem“ von Benjamin Britten und der Premiere von Zemlinskys „Der Kreidekreis“ die Uraufführung „GerMANIA“ zu erleben. Intendant Serge Dorny hat sie bei Alexander Raskatov in Auftrag gegeben. Der 1953 just am Tage von Stalins Begräbnis geborene Russe schuf fürs Musiktheater bereits die Edgar Allan Poe-Veroperung „The Pitz an die Pendulum“ sowie die Bulkakow-Anverwandlung „Hundeherz“, die seit 2010 an der Dutch National Opera, in Covent Garden, der Mailänder Scala und in der Opéra de Lyon Erfolge feierte. Serge Dorny stieß den Komponisten daraufhin auf die Texte von Heiner Müller, die den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen aufarbeiten: „Germania Tod in Berlin“ und „Germania 3, Gespenster am toten Mann“.
Dank Alexander Raskatov ist Adorno endlich widerlegt
Raskatov hat sich begeistern lassen und in der Folge aus dem Konvolut an Texten ein eigenes Substrat destilliert, das bewusst keine durchgehende erzählerische Handlung behauptet, sondern in zehn Szenen Schlaglichter auf zentrale Momente des dunkelsten Kapitels europäischer Geschichte lenkt: Die spielen in nicht streng chronologischer Reihenfolge 1941 im Moskauer Kreml, 1943 in Stalingrad auf deutscher wie auf russischer Seite, 1945 in Berlin, wo wir im Führerbunker das Ende von Eva Braun und ihrem frisch Angetrauten beiwohnen dürfen, im Gulag der Nachkriegsjahre, 1960 im noch keineswegs vom Antisemitismus geheilten Deutschland, 1956 in Berlin anlässlich der Beerdigung von Bertolt Brecht, 1991 im wiedervereinigten Berlin, 1961 im All, wohin der Russe Gagarin als erster Mensch überhaupt aufgebrochen war. Mit dem an die Heiner Müller-Texte angehängten „Auschwitz-Requiem“, das um das jüdische Kaddisch-Gebet kreist, endet die Oper mit einem sanft versöhnlichen Lamento-Chorgesang. Womit nicht zuletzt Adornos die Künste im Allgemeinen und das Singen (in deutscher Sprache) im Speziellen meinendes Diktum „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ widerlegt wäre.
Prokofjew und Schostakowitsch lassen grüßen
Doch wie klingt nun eine Oper, die mit einem veritablen Hitler-Stalin-Duett aufwartet? Während die Kriegsszenen zu Beginn noch als allzu naturalistisch folkloristischer Bilderbogen im Nachgang eines „Boris Godunow“ angelegt sind, Stalin mit Steinkohlenbass in russisch orthodoxer, bäuerlich behäbiger Gemütlichkeit und angemessen alkoholisiert orgeln darf und als durchgeknallter Diktator einen durchaus witzigen Schlächter abgibt, spitzt der Komponist das satirische Element immer weiter zu. Prokofjew und Schostakowitsch stehen Pate für diesen Ansatz, mit Allusionen an Wagners Walhall und Zitaten von Soldatenliedern und Jazz ist auch Alfred Schnittke mit seinem Polystilismus nicht weit entfernt. Alexander Raskatow schreibt eine konzis könnerische, handwerklich präzise Partitur, die – dem Dichter angemessen – Brechts und Weills Verfremdungs-Effekt aus dem Effeff kennt, freilich über den immer wieder auch ironisch gebrochenen Expressionismus von Berg oder Strauss in seinen musikalischen Mitteln kaum hinausgeht.
Treffsicher karikierende Wiedergeburten der beiden größten Massenmörder der Geschichte
Viel Humor und Einfühlungsvermögen zugleich allerdings beweist Raskatow in der Behandlung der Stimmfächer, bei denen der Russe geschickt die Extreme (sehr hoch vs. sehr tief) wählt: In idealem Kontrast zur Bass-Gemächlichkeit Stalins (Gennnadii Bezzubenkov kreiert eine treffsichere Wiedergeburt des russischen Massenmörders) hat er Hitler (James Kryshak als übergeschnappt kreischendes Big Baby) mit einem hysterischen Buffotenor (sic!) bedacht. Das bislang nie dagewesene Stimmfach musste offensichtlich genau für diese Oper erfunden werden, um die Rhetorik Hitlers trefflich zu charakterisieren und angemessen zu persiflieren. Da seine Auftritte als übergeschnappter Untoter zwar besondere Aufmerksamkeit auflösen, aber bis zum baldigen selbst gewählten Ende episodisch bleiben, sind die anfangs angesprochenen Gefahren gebannt: Die Identifikation mit dem Kriegstreiber ist nie eine Gefahr, die ironische Brechung der Figur tut gut, die ins Revuehafte umgebogenen „Heil Hitler“-Gesänge direkt vor Hitlers Tötung von Eva Braun und seinem Selbstmord sind probates Mittel der Distanzierung.
Alejo Pérez am Pult holt einfach alles aus der Partitur
Kompositorisch also ist das riesige Wagnis geglückt. Über das – Heiner Müllers Illusionslosigkeit ins Utopische wendende – Requiem-Finale ließe sich streiten. Es ist als Hoffnungszeichen in einem gerade wieder einmal gefährlich auseinanderdriftenden Europa ja auch ein schönes Zugeständnis an die Konvention der Gattung Oper. Alejo Pérez am Pult eines glänzend durch die Stile, Zeiten und Zitate wandernden Orchesters der Opéra de Lyon holt fürwahr alles mit wissendem Nachdruck aus der Partitur: die hymnischen Soldatenlieder, die posaunendräuenden Wagner-Anspielungen, die satirischen Gesänge. Und das riesige Ensemble mit all den vielen kleinen und gleichwohl prägnanten Rollentypen ist exzellent besetzt, hier sei nur der stratosphärische Tenor des Karl Laquit als rosa Riese beispielhaft hervorgehoben.
Allein die plakativ dialektikfreie Inszenierung schwächelt
Allein die Inszenierung wird dem Stoff und Müllers wie Raskatows dialektischer Aufarbeitung desselben nur bedingt gerecht. Die Drehbühne zeigt einen einzigen gigantischen Leichenberg in einem ungebrochenen filmischen Realismus. Darauf, daraus und davor regelt Regisseur John Fulljames die Auf- und Abtritte unfallfrei, plakativ, mit ein paar blutigen Gedärmen, exaltiert witzigen Witwen – und dann doch nur vorgeblicher historischer Korrektheit. Denn wie bereits im „War Requiem“ unterläuft dem Regieteam eine seltsame Ungenauigkeit: Es missbraucht das Schwarz-Rot-Gold der deutschen Republik als Signet der Nazi-Gewaltherrschaft, was die aktuelle Flagge nur nie war. Ob auch ein deutsches Opernhaus den Mut besitzen wird, „GerMANIA“ nachzuspielen? Die Zeit wäre reif, der deutschen Geschichte auch auf diesem Wege jenseits von Betroffenheit, Schuld und Sühne zu gedenken.
Opéra de Lyon
Raskatov: GerMANIA
Alejo Pérez (Leitung), John Fulljames (Regie), Magda Willi (Bühne), Wojciech Dziedzic (Kostüme), Sophie Desmars, Elena Vassilieva, Mairam Sokolova, Andrew Watts, Karl Laquit, James Kryshak, Alexandre Pradier, Michael Gniffke, Boram Kim, Ville Rusanen, Piotr Micinski, Timothy Murphy, Gennadii Bezzubenkov