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Opern-Kritik: Opéra de Lyon – Barbe-Bleue

Die Offenbach-Offenbarung

(Lyon, 14.6.2019) Laurent Pellys Regie-Anspielungen auf Aktuelles geraten lustvoll pointiert, Maestro Michele Spotti kitzelt das anarchisch Potenzial aus der genialen Partitur.

vonPeter Krause,

Es prickelt und es walzert gar vortrefflich. Popos und Brüste wackeln allenthalben. Der König von Frankreich ist ein Volltrottel, er lässt sich treiben vom Herrn Blaubart, einem allzu mafiösen Migranten, der sich im schwarzen Jaguar chauffieren lässt, um sich mal wieder eine neue Schöne vom Lande auszugucken, die dann, ist sie erstmal seine Braut, alsbald gut gekühlt in seinem Verlies entsorgt wird, genau wie ihre diversen Vorgängerinnen. Der Kerl hat also so manche Leichen im Keller.

Doch da wir uns eben nicht im Original-Mythos des düsteren Märchens befinden, wie es ein Bartók später in expressionistisch glühende Töne gesetzt hat, sondern in Offenbach Operette „Barbe-Bleue“, sind die Damen nur auf Eis gelegt und werden von Blaubarts buffoneskem Diener Popolani (Christophe Gay) im richtigen Moment dann wieder ans Licht befördert, um nun dem mächtigen Mörder seine Machenschaften zu vermasseln. Deshalb kriegt er am Ende auch nicht die entzückende Prinzessin (soubrettenlieblich: Jennifer Courcier), ab, sondern die dralle Bäuerin Boulotte. Und die fünf vorgeblich Verblichenen des Ritter Blaubart werden mit den fünf Herren vermählt, die der König als Nebenbuhler um die Liebesgunst seiner Gattin Clémentine vorsorglich hatte töten lassen. Wobei auch hier ein gewitzter Untergebener heimlich Schlimmstes unterbunden hatte. Zum champagnertrunkenden Finale kriegt schließlich auch die Prinzessin ihren Prinzen (substanziell tenorlyrisch: Carl Ghazarossian). Ende gut, alles gut.

Komödie ist nicht gleich Klamotte – das hört man in jeder Pore der Partitur, das sieht man und lacht kaum unter Niveau

Komödie als (billige) Klamotte ist an der Opéra de Lyon freilich Fehlanzeige. Dazu sind erstens Offenbachs Musik und der Text seiner Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy, die späteren „Carmen“-Dichter, zu eindeutig genialitätsverdächtig. Und zweitens ist Laurent Pelly ein so ausgebuffter Regiemeister des Komischen, dass man zwar laufend lacht, aber selten unter Niveau. Die handwerkliche Beherrschung seines Metiers ist bestechend, das perfekt getimte Stück schnurrt ab wie am Schnürchen – und entfaltet sein anarchische Potenzial in jeder Pore der Partitur.

Szene aus Offenbachs „Barbe-Bleue“ an der Opéra de Lyon

Dafür sorgt nicht zuletzt der junge italienische Maestro Michele Spotti am Pult des Orchester der Opéra de Lyon. Er kostet jedes Rubato, das die multiplen Tempowechsel vorbereitet, jede stufendynamische Raffinesse, jede an Rossini gemahnende Stretta mit exakt dem richtigen Gespür, mit Eleganz und seidig-süffiger Tongebung aus. Der Mann ist gerade mal 26 Jahre jung. Welch ein enormes Talent! Und welch ein neuerliches Zeichen für die feine Hörnase und das Geschick von Intendant Serge Dorny, große Begabungen frühzeitig zu erkennen und an sein Haus zu binden. Wow!

Offenbach war gar nichts heilig: Und die Franzosen lachen auf einmal über sich selbst

Angesichts dieses fantastischen Dirigenten wird deutlich, wie sehr Offenbach zumal in seinem Geburtsland unterschätzt wird. Dieser unfasslich inspirierte Operettenabend offenbart endlich einmal, was der in diesen Tagen 200 Jahre jung werdende Offenbach wirklich konnte, wie sehr ihm gar nichts heilig war, wie sehr er gerade mal vier Jahre vor deutsch-französischen Krieg von 1870/71 als deutscher Jude in Frankreich alles wagte – und alles gewann.

Szene aus Offenbachs „Barbe-Bleue“ an der Opéra de Lyon

Es verblüfft schon sehr, dass und wie gut es damals klappte, dass ein Kölner Wahlpariser den Franzosen so schamlos den Spiegel vorhielt. Gradmesser für den Erfolg der jetzigen Geburtstagsinszenierung ist nun auch, wie problemlos die Franzosen über sich selbst lachen können. Pelly ist frech, aber nicht übertrieben boshaft, er inszeniert den Erotizismus seiner Landsleute drall, aber nicht peinlich. Er lässt die devoten Hofschranzen im Palast des depperten Königs in einer gar nicht fernen, postrevolutionären, längst demokratischen Vergangenheit auftreten, und das Publikum nickt kennerisch lächelnd ab, dass sein Volk seine gewählten Präsidenten auch heute noch allzu gern mit einem royalen Nimbus versieht. Revolution war einmal, der pseudostarke Mann da oben darf fast alles. Pelly ist dabei klug genug offenzulassen, wer dieser zappelnde Louis de Funès-König sein könnte. Im Zweifel sieht er mehr nach Trump denn nach Macron aus.

Barbe-Bleue: Offenbach zieht Meyerbeers Grand Opera durch den kompositorischen Kakao

Auf jeden Fall ist dieser König, dem Christophe Mortagne messerscharfen tenoralen Charakterwitz leiht, ein Getriebener, der vor Blaubart kuscht, trägt letzterer doch sein Haar wie der nordkoreanische Diktator. Hört man nicht immer wieder, dass das Diktatorenoriginal auch seine Leichen im Keller stapelt? Pellys Anspielungen auf Aktuelles geraten lustvoll und assoziationsreich, pointiert, doch nicht platt. Und so richtig böse ist auch der Bösewicht Blaubart nicht, er ist Täter, aber ebenso Opfer seiner Leidenschaften, wie die Guten es eigentlich ganz ähnlich sind.

Szene aus Offenbachs „Barbe-Bleue“ an der Opéra de Lyon

Passende Partnerin für den hier tatsächlich Blaubärtigen ist in diesem Sinne Bäuerin Boulotte, ein mezzoprall übergriffiges Vollweib, das jeden Kerl abknutscht, der ihr in die Quere kommt. Héloïse Mas singt sie mit dramatisch aus dem französischen Text entwickelten Furor, dabei dennoch mit wasserblauer Klarheit. Da wächst mit der erst 31 Jahre jungen Französin eine bedeutende Sängerdarstellerin zumal für dies so schwer zu besetzte Titelfigur von Bizets „Carmen“ heran. Yann Beuron als Blaubart singt und spielt auf Augenhöhe. Mit seinem versatil virilen Tenor weiß er zudem klug mit den von Offenbach verwursteten Opernkonventionen zu spielen, wenn er zur dramaturgischen Unzeit Koloraturen singt und seine Voix mixte einsetzt oder sich mit heroischem Gestus wie ein ernster Held von Meyerbeer geriert, dessen Grand Opera Offenbach mit Vorliebe durch den kompositorischen Kakao zieht. Da werden Meyerbeers zu Herzen gehende Sterbeszenen zitiert, um die dahinscheidenden Damen alsbald quicklebendig weitermachen zu lassen.

Unglaublich modern wirkt Offenbach an diesem Abend durch seine gleichsam schon postmoderne Dekonstruktionswut, seinen Mut der Verfremdung, seine Persiflage heiliger Opernkunst, weil alle Interpreten verinnerlicht haben, was sich der Jubilar da so alles erlaubt hat. Ausdrücklich eingeschlossen ist hier auch der spielfreudige Chor, den Pelly in kuriosen, fantastisch übertriebenen Synchrongesten zu führen weiß. Man kommt aus dem freudigen Staunen nicht heraus.

Opéra de Lyon
Offenbach: Barbe-Bleue

Michele Spotti (Leitung), Laurent Pelly (Regie & Kostüme), Chantal Thomas (Bühne), Yann Beuron, Carl Ghazarossian, Jennifer Courcier, Héloïse Mas, Christophe Gay, Thibault de Damas, Christophe Mortagne, Aline Martin, Chor und Orchester der Opéra de Lyon

Weitere Termine: 21., 22., 24., 25. & 29.6., 1.7.2019

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