Statt auf der Bühne fand die Uraufführung des Musiktheaters „Im Stein“ im Live-Streaming statt. Dorthin gehört es auch. Während der Autor Clemens Meyer in seinem 2013 erschienenen Roman anhand des florierenden Sex-Geschäfts ein Panorama des wirtschaftlichen Umbaus der ostdeutschen Gesellschaft entwarf, fragt die Komponistin Sara Glojnarić sich, warum die Gegenwart so nach den kulturellen Spuren der jüngeren Vergangenheit lechzt. Böse Fragen bilden den schrillen Schlussakkord einer spannenden Theaterära.
Ein inhaltlicher Erfolg, der vielen ein Dorn im Auge war
Erst waren sie zu dritt, dann nur noch einer. Halles Opernintendant Florian Lutz löste 2020 seinen Vertrag auf, um sich seinen neuen Aufgaben als Intendant des Staatstheaters Kassel widmen zu können. Reporte über eine nach peripheren Seitenauftritten und -hieben entschwundene Generalmusikdirektorin und einen nach Dauerturbulenzen vorzeitig verabschiedeten Geschäftsführer rissen bis letztes Jahr nicht ab. Veit Güssow hatte sich schon früher aus dem Triumvirat der Oper Halle zurückgezogen. So blieb Michael von zur Mühlen als einziger bis zum überlangen pandemischen Finale im Sommer 2021.
Dabei hielt der bis zum Schluss aktive Operndirektor mit den Dirigenten Michael Wendeberg und José Miguel Esandi alles, wofür die Hallesche Dramaturgie von 2016 bis 2021 stand. Das lebendige Hinterfragen von Stücken und Themen mit einer Zeitrelevanz, die manchen in ihrer unnachgiebigen Schärfe und sarkastischen Verspieltheit unangenehm werden musste. Offenheit blieb ein zentrales Wort: Offenheit in der inhaltlichen Kommunikation, Offenheit im Themenuniversum zwischen 30 Jahre Wiedervereinigung und internationalem Turbokapitalismus mitsamt Ausprägungen und vor allem Offenheit betreffend performative Räume, Medien und Werkanalysen. Höhepunkte waren zum Beispiel der Start mit dem „Fliegenden Holländer“ auf der Raumbühne Heterotopia, bei der das Publikum in der Kapitänslounge saß und beim Betriebssport eines Logistikcenters mitmachen konnte, oder das Verdi-Requiem als dramatischer Akt des Glaubens und Zweifelns für Affen und Menschen. Immer wieder wurde die Flüchtlingsfrage gestellt sowie mit Förderung der Ernst von Siemens Musikstiftung jede Spielzeit eine andere Musiktheater-Uraufführung angesteuert, manchmal sogar zwei.
Uraufführungstheater
Die in Kooperation mit den Bühnen Bremen und Wuppertal entstandene Logistik-Oper „Chaosmos“ wanderte als aleatorisch betrachtbarer 24-Teiler ins Netz, „Opera, Opera, Opera! revenants and revolutions“ konnte infolge der Lockdowns erst als große Szenenfolge mit dem MDR vorproduziert werden und kommt in irgendeiner Form bei der Münchener Biennale für Neues Musiktheater 2022 heraus. Johannes Kreidlers „Mein Staat als Freund und Geliebte“ war eine Choroper der ungewöhnlichen Art, Sarah Nemtsovs „Sacrifice“ ein für das auf der Drehbühne sitzende Publikum ein durch Medialität, Simultanbühnen und Sujet anstrengendes Schwellenwerk. Die Uraufführung von „Im Stein“ hätte bereits 2018 als Vertonung einer anderen Komponistin herauskommen sollen, verzögerte sich durch den ersten Lockdown nochmals und ist wie andere Hallesche Musiktheater-Entwicklungen ein Hybridstück, dem man dieses Mal mit etwas Mut zur gattungstypologischen Offenheit noch das publikumsfreundliche Etikett „Literaturoper“ anheften wollte. Mit Opas Oper hatte die Oper Halle also so wenig zu tun wie Kinder-Schokolade mit Beate Uhse. Erkenntnis- und Horizonterweiterung garantiert.
Reizwäsche für alle!
Die immer noch äußerst labile inhaltliche Ordnung von „Im Stein“ bringt Clemens Meyer selbst ins visuelle Geschehen. Mit goldglänzendem Abendkleid sitzt er in einer Raumkapsel, mimt Moderatorenlaszivität, verströmt bedeutungsneutrale Plattitüden und stellt banale Quizfragen. Die Musik von Sara Glojnarić besteht aus Akkord-, Krach- und Melodiefragmenten. Die Medienkünstlerin und Performerin fragt sich in ihren Konzepten, warum viele rundum vernetzte Wesen so viel Sehnsucht nach den Sounds, Filmen und Massenkulturen der Vergangenheit haben. Autor und Komponistin geben selbst die Antworten: Wo alles im Fluss der Waren, Warenwerte und Wesenhaftigkeiten ist, lösen sich Identitäten auf. Statt wenig atmosphärischer Außen- und Wohnstudios spielt der Schluss des Musiktheaters „Im Stein“ im weißen Nebel der Visionen: Mit zeitloser Reizwäsche stürzen sich Frauen und Männer, Händler und Kunden, Suchende und Satte aufeinander. Die Unterschiede vergangener Ordnungshaltungen im Menschenpark haben sich aufgelöst. Reizwäsche für alle! Vor dem Sexus sind alle gleich.
Michael von zur Mühlen und sein Team wuchteten den Begriff des realistischen Theaters aus den Grenzen physischer Gesetzmäßigkeiten heraus und fokussierten ihre Bemühungen mit einem erweiterten Theaterbegriff ins Filmische, Entgrenzende und Digitale. Für diese Initiativen erwiesen sich die Lockdowns als rasant wirkende Katalysatoren.
Oper Halle
Glojnarić: Im Stein (UA)
Michael Wendeberg (Musikalische Leitung), Michael vom zur Mühlen (Inszenierung), Christoph Ernst (Bühne und Kostüme), Martin Mallon (Video und Bildregie), Iwo Kurze (Kamera), Martin Recker & Paul Hauptmeier (Klangregie), Lucia Kilger & Lukas Nowok (Programmierung Soundeffekte), Clemens Meyer, Camille Dombrowsky, Anastasia-Lara Heller, Anton Dreger, Harald Horvath, Clemens Kersten, Hagen Ritschel, Jörg Simonides, Andrew Nolen, Anke Berndt, Michael Taylor, Sebastian Byzdra, Kaori Sekigawa, Sara Glojnarić, Chor der Oper Halle, Staatskapelle Halle