Diese Oper gehöre „in das Gebiet der Sexualpathologie“. So bescheinigte es die Hofzensur anno 1905 und verbot die österreichische Erstaufführung von Richard Strauss‘ „Salome“ in der kaiserlichen Hauptstadt Wien. Ein Jahr später ging es dann aber – in Graz. Strauss persönlich kam zum Dirigieren, als Gäste der Premiere fanden sich interessierte Kollegen wie Mahler, Schönberg, Berg, Zemlinsky und Puccini ein. Die Stadt in der Steiermark kann also auf eine gewisse Aufführungstradition bei der „Salome“ blicken. Drastisch ist die dem Neuen Testament entnommene Handlung dieser Oper noch heute.
Doch neben ihren Schockmomenten und den blutrünstigen Abgründen der Titelfigur erzählt „Salome“ vor allem die Geschichte einer extrem dysfunktionalen Familie, in der sich die Eheleute längst bis zur Verachtung hassen und der Stiefvater Herodes der Stieftochter Salome lüstern nachstellt.
#Metoo dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein
Genau diesen Aspekt einer familiären Hölle nimmt Regisseurin Florentine Klepper mit ihrem Team nun für die Neuinszenierung an der Oper Graz in den Fokus und liest die Handlung als Ausdruck einer Gesellschaft, die einen schwerwiegenden Fehler im System hat. Denn #Metoo dürfte ja zweifellos nur die Spitze des Eisbergs sein. Klepper zeigt mit einer sehr genau gearbeiteten Personenregie, dass die Verhältnisse in der kleinsten sozialen Zelle genau das widerspiegeln, was gesellschaftlich noch immer faul ist. Die Regisseurin setzt für ihre Inszenierung das biblische Geschehen um Salome und Johannes den Täufer in die heutige Zeit und arbeitet mit der Bildästhetik von Hollywood-Thrillern.
Herodes hat seine Unterdrückungsmaschinerie fest etabliert
In einer Villa aus Glas, Stahl und Ziegelsteinen im Retro-Chic (Bühne: Martina Segna) steigt eine ausschweifende Party. Es kann auch einer dieser sündhaft teuren Aufbauten auf einem Wolkenkratzer sein, den sich die Superreichen in den angesagten Metropolen heute gönnen. Gefeiert wird in Männerrunde mit eingeladenen Prostituierten, wie sie hochdotierte Börsenunternehmen wohl heute noch gerne veranstalten, um Kunden zu beeindrucken und Mitarbeiter zu belohnen. Das Ganze wird bewacht von paramilitärischer Security, ausgestattet mit Sonnenbrillen und locker sitzenden Pistolen.
Herodes als Strippenzieher dieser Gesellschaft ist ein schmieriger Playboy (Kostüme: Adriane Westerbarkey), der seine Unterdrückungsmaschinerie fest etabliert hat. Der sich lässig geben kann, weil er es gar nicht mehr nötig hat, seine Macht vordergründig auszuspielen. Sein gesamtes Umfeld hat er offensichtlich mit Gewalt längst seinem Narzissmus unterworfen. Frauen sind in diesem System zu Objekten degradiert, sie dienen als Dekoration oder als Spielzeuge.
Hier liegt jahrelanger Missbrauch in der Familie vor
Eines der Opfer in diesem Gefüge ist Herodes‘ Frau Herodias, deren glamouröse Designer-Garderobe kaum mehr überdecken kann, dass sie längst ein Wrack ist. Nur noch mit viel Promille steht sie die Kälte und Demütigung ihrer Ehe durch – und das, was ihr Mann mit ihrer Tochter anstellt. Denn die Inszenierung macht klar: Hier liegt jahrelanger Missbrauch in der Familie vor. Kurz vor „Salomes Tanz“ bittet Herodes ganz selbstverständlich, in alter Gewohnheit, Salome auf seinen Schoß, die der Aufforderung ohne Protest sogleich folgt. Keiner der Anwesenden unternimmt etwas dagegen.
Den Rest kann man sich denken. Die Szene verdunkelt sich, Videosequenzen (Video: Heta Multanen) zeigen Salome als Kind und Jugendliche mit Verletzungen im Gesicht und deuten Missbrauch durch Vertreter der Weltreligionen an. Die allzu ästhetisierende Bildsprache hält hier allerdings das Monströse des Themas letztlich auf Distanz. Hier hätte die Einblendung sachlicher Fakten und Zahlen über Missbrauch die Botschaft wesentlich stärker transportiert.
Salome ist Täterin und Opfer
Eindrucksvoll hingegen wird gezeigt, wie Salome Opfer der Verhältnisse ist und das, was sie selbst erleben musste, reproduziert: In ihrem Umgang mit Jochanaan, dem Gefangenen ihres Vaters, probiert sie genau jene Willkür und Übergriffigkeit aus, die sie selbst an sich geschehen lassen muss. Wie einer Puppe setzt sie dem Gefangenen eine Perücke auf, malt ihm die Lippen rot, benutzt ihn wie ein Spielzeug. Dass sie ihren Wunsch durchsetzt, Jochanaan zu töten, weil er nicht pariert, wie sie will, ist extreme grausame Konsequenz dieses Musters, Salome Täterin und Opfer.
Souveränes Rollendebüt
Johanni van Oostrum, die vor einigen Jahren in Graz bereits in Franz Schrekers „Der ferne Klang“ begeisterte, gibt nun in der Titelpartie von „Salome“ ihr überaus souveränes Rollendebüt, zwischen frühreifer Playerin, die bereits die fatalen Mechanismen ihres Umfelds einsetzt, und verängstigtem Mädchen, das sich immer wieder verschreckt zurückzieht. Die Sopranistin hat die Energie für eine nuancenreiche Gestaltung, faszinierend, wie sie ihre Töne teils fast schon jazzig einfärbt.
Thomas Gazheli als Jochanaan verleiht seiner Figur mit markiger Stimmgewalt Profil zwischen Heilsgewissheit und anbrechendem Wahnsinn. Manuel von Senden als Herodes verkörpert mit gestochener Diktion überzeugend den leichtfertig-windigen Despoten, dessen Zynismus und dessen Kälte umso gefährlicher erscheinen, und Iris Vermillion als Herodias erweist sich als großartige Sängerdarstellerin, die differenziert zwischen Wut und Verzweiflung wechselt.
Generalmusikdirektorin Oksana Lyniv hält den Spannungsbogen
Die gut aufgestellten Grazer Philharmoniker, mit Harfen und Teilen des Schlagzeugs in Seitenlogen verteilt, halten unter der Leitung ihrer inspirierten Generalmusikdirektorin Oksana Lyniv den Spannungsbogen konsequent von Anfang bis Ende. Sie entfesseln instrumentale Gewalten, lassen es fauchen, brodeln, donnern, peitschen, und arbeiten so transparent wie plastisch ausgefeilt die solistischen Passagen heraus. Da hört man jede Klarinettenlinie und jeden Kastagnettenakzent heraus. Erneut erweist sich Graz als lohnende Opernadresse.
Oper Graz
R. Strauss: Salome
Oksana Lyniv (Leitung), Florentine Klepper (Regie), Martina Segna (Bühne), Adriane Westerbarkey (Kostüme), Heta Multanen (Video), Reinhard Traub (Licht), Marlene Hahn & Jörg Rieker (Dramaturgie), Manuel von Senden, Iris Vermillion, Johanni van Oostrum, Thomas Gazheli, Pavel Petrov, Marike Jankowski, Grazer Philharmonisches Orchester