Eigentlich ist es bei dieser Produktion egal, ob sich die Oper Chemnitz auf die „Stockholmer Fassung“ oder die nach absurden Kämpfen mit der neapolitanischen Zensur für Rom geringfügig entschärfte „Bostoner Fassung“ beruft. Der neue musikalische Chef Guillermo García Calvo liefert einen glänzenden Einstand im Musiktheater und veredelt den toppgenauen Zugriff des um Arila Siegert eingespielten Regieteams, das in Chemnitz für seine Inszenierungen von „Freischütz“, „Eugen Onegin“ und Faurés „Pénélope“ sehr geschätzt wird. Genau erarbeitetes „post-realistisches Musiktheater“ und ein in der Grundhaltung lyrisches Verdi-Verständnis ergänzen sich ideal.
Gemeinsames Erstarken
Guillermo García Calvo bringt aus der Wiener Staatsoper nicht nur das von der Pieke auf gelernte Handwerk mit, sondern auch Gastsolisten und als „Residenzgäste“ junge talentierte Sänger, die sich in ausgewählten Fachpartien erste Sporen erwerben können. Zwei Kardinaltugenden springen bei dieser „Maskenball“-Premiere vom Dirigentenpult, der Bühne und aus dem Orchestergraben in das beglückte Publikum, das sich durch aus der österreichischen Donaumetropole angereiste Claque-Aspiranten nicht vom eigenen Applausgebaren abbringen lässt: Man dankt für musikalische Sensibilität und szenische Intelligenz.
Vokale Streichelexzesse
Der Spanier liebt den weichen Klang der Robert-Schumann-Philharmonie, und er kann sehr gut mit Sängern arbeiten. Das heißt nicht, dass er autokratisch seinen Willen durchdrückt, sondern vor allem weiß er alle Stärken seines Ensembles zu mobilisieren. Trotz weniger offener Töne klingt Ho-Youn-Chung in der Paraderolle bis zum Tod des auf dem titelgebenden Maskenball ermordeten Gustavo III. von Schweden rundum gut. Für diese Rolle an der Bruchstelle zwischen der vom Belcanto beherrschten und der dramatischen Epoche des italienischen „melodramma“ hat er fast alles. Am erstaunlichsten ist aber die Metamorphose der vor allem im deutschen Fach verwurzelten Maraike Schröter als seine Geliebte und im Konflikt mit ihrem Gatten zerriebene Amelia. Sie kann am stilistischen Schliff für das große italienische Fach weiterarbeiten und darauf vertrauen, dass sie ihren persönlichen, sehr geraden Ton kultivieren darf.
Guillermo García Calvo kennt Verdis Sehnsucht
García Calvos „Tricks“ sind einfach: Er hört seinen Musikern zu und modelliert alles, wie es bei Verdi steht. Er verzichtet auf lärmende Traditionen wie das oft allzu verbreiterte Forte im Orchesterausbruch des Liebesduetts am hier so kaltgrauen Galgenberg. Dafür denkt er alle Nebenstimmen mit, zum Besten des ganzen Abends. So verlebendigt Guillermo García Calvo Verdis Sehnsucht nach der Geschmeidigkeit französischer Opern und reißt die Grenzen zwischen Deklamation und Melodien ein. Dieses Kontinuum von Gesang und Klang kennt keine einzige Beiläufigkeit. García Calvo überlässt, wenn es passt, der Bühne die Führung: Da überreicht er zum Beispiel in beiden Quintetten das musikalische Zepter dem von Arila Siegert als tödlich tändelnde Spaßgranate dargestellten Pagen Oscar. Silvia Micu wird von einer Begleit- zur Glanzstimme. Das zeigt Vertrauen in das Potenzial junger Sänger wie der Ulrica von Alexandra Ionis, die der Wahrsagerin anstelle einer künstlich aufgepeppten Alt-Tiefe das Profil eines sehr gut entwickelten Mezzosoprans gibt. Diese den Abend tragende szenisch-musikalische Dialektik beseligt.
Dramaturgische Detailverliebtheit
Möglicherweise treibt die Akribie des Regieteams die Kollegen zu dieser musikalischen Meisterleistung. Daran ist sicher nicht Schlechtes, denn Arila Siegert, Hans-Dieter Schaal und Marie-Luise Strandt zeigen die heute fast schon altmodische Tugend der genauen Gedankenführung auf einer Linie, die sich den Brüchen und Vielschichtigkeiten der von ihnen erarbeiteten Werke mit gedanklicher Fülle stellt. Das erfordert von Zuschauern die volle Aufmerksamkeit für Details. Hier sucht vor kalten hohen Mauern und Gittern eine reglementierte Gesellschaft mit Jux, Tollerei und Verkleidung das gefährdende Amüsement. Nicht nur zum Maskenball am Ende, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Dieses Dahintänzeln in düsterer Zeitlosigkeit steigern die von Arila Siegert und von Stefan Bilz glänzend präparierten Chorgruppen zu eisiger Marionettenhaftigkeit. In fast jeder Bewegung steckt Amüsierwut.
Gustavos Reifungsprozess
Des Königs Lieblingsplatz ist die Platte eines Ehrengrabs, das in der nächsten Sekunde auch eine kleine Bühne sein kann: Hier posiert er zu Beginn wie ein Operettendiktator und Hamlet mit Yoricks vergoldetem Schädel in Personalunion. Gustavo gewinnt vor dem Tod persönliche Freiheit, legt am Ende seinen blutroten Schal ab und nimmt das ihn gemäß Ulricas Prophezeiung ereilende Ende fast als Erfüllung. Die Inszenierung setzt aber nicht auf Feudalismus-Kritik, sondern erzählt vor allem, ganz nah bei Verdi, vom Reifungsprozess Gustavos. Paolo Rumetz hat als hier wesentlich älterer Ehemann der großen Königsliebe Amelia das Nachsehen. Die Produktion ist zu stark für sein nicht ebenbürtig starkes Rollenprofil des enttäuschten Freundes, das sich im sehr stilsicher und kraftvoll bewältigten Verdi-Gesang zu genügen scheint. Die Gewichte verschieben sich dadurch. Magnus Piontek wertet als echter erster Bass seinen von Verdi etwas unterbelichteten Intriganten-Part gründlich auf. Die dunkel herumtastenden Verschwörer outen sich beim Maskenball als Krawattentäter.
Geschlechterrollen wirken überzeichnet
Nur in einem Strang fällt die Inszenierung ab – im Hier und Jetzt wirkt die fast feindselig pointierte Verteilung der Geschlechterrollen zu stark überzeichnet: Deshalb energischer Widerspruch dazu, dass es nicht immer nur Frauen sind, die unsere Welt von dem durch Männer angerichteten Unheil reinigen müssen. Da kann man gerade von einem so klar denkenden Team etwas mehr Differenzierung auf Höhe aktueller Diskurse erwarten. Und trotzdem: Wenn sich König Gustav und die hier zum fast madonnenhaften Engel der Pflicht überzeichnete Amelia vor dem Sternenfirmament mit vokalen Streichelexzessen umwerben, ist die Opernwelt schwer in Ordnung. Mit Geist und allen Sinnen.
Oper Chemnitz
Verdi: Ein Maskenball
Guillermo García Calvo (Leitung), Arila Siegert (Regie), Hans Dieter Schal (Bühne), Marie-Luise Strandt (Kostüme), Stefan Bilz (Chor), Ho-Yoon Chung / Sung Kyu Park (Gustavo), Paolo Rumetz (Anckarström), Maraike Schröter (Amelia), Alexandra Ionis (Ulrica), Silvia Micu / Guibee Yang (Oscar), Andreas Beinhauer (Christiano), Magnus Piontek (Horn), Eric Ander (Ribbing), Chor, Chorgäste und Extrachor der Oper Chemnitz, Statisterie, Robert-Schumann-Philharmonie