Es ist ja nicht so, dass die Wiener Staatsoper bisher ohne ein Angebot für die Jugend dastand. Produktionen für Kinder und Jugendliche waren bisher in verschiedenen Orten der Stadt zu sehen, bis eine eigene, dauerhafte Spielstätte gefunden werden konnte – und musste. Denn das Haupthaus und die Nebenspielstätten platzen aus allen Nähten. Der Wunsch nach einem eigenen Haus für neues Musiktheater begründet der Direktor der Wiener Staatsoper, Bogdan Rošćić, weit weniger pragmatisch, denn die Notwendigkeit besteht „nicht, um das vielbeschworene Publikum von morgen heranzuziehen, sondern weil die Staatsoper für alle da sein will und jede Generation das Recht auf ihr Theater hat.” So weit, so wichtig.
Nun ist das Nest in bester Lage neben dem Musikverein zu Hause. Der französische Saal des ehemaligen Künstlerhauses am Karlsplatz, das lange leerstand, steht dem Opernbetrieb in vier voll renovierten Etagen zur Verfügung. NEST – eigentlich eine Abkürzung von NEue STaatsoper – ist ein guter Name für das Unterfangen, dem jüngeren Publikum ein eigenes Angebot zu machen. Im Nest ist es kuschelig, hier kann man Liebe zum Theater, ästhetische Werturteile, allgemein Zugang zu Bildung anfüttern. Von hier aus kann und soll man auch flügge werden. Der Saal mit der kleinen Guckkastenbühne inklusive Orchestergraben bietet über 200 jungen und alten Theatergängern Platz, jeder kann sehen und hören. In schwarzer Eleganz und modernem Ambiente gehalten, signalisiert das Haus, dass man seine Klientel ernst nimmt. Die Sitze sind ausbaubar, um für Inszenierungsvarianten offen zu sein. Das NEST will auch experimentellen Formaten Raum geben.
Das Wir gewinnt!
Zur Eröffnung hat die ehrwürdige Institution eine Oper in Auftrag gegeben, gefördert mit Mitteln der Ernst von Siemens Musikstiftung. Damit steht das Opernhaus zum „Neuem” im Namen und wagt Innovation. Der Kanadier Thierry Tidrow vertont das Buch von Carsten Brandau „Sagt der Walfisch zum Thunfisch”. Darin geht es um ICH und DU, die sich – gerade angenähert – einer Sintflut stellen müssen. Rettung naht von NOE, der mit seinem Raumschiff zu den beiden Wesen herabschwebt. Doch diese Arche nimmt nur Musiker auf – und das Boot ist eh voll. DU kann sich mit dem titelgebenden Witz noch einen letzten Platz auf dem Schiff ergattern. Komik ist neben Musik noch eine Eintrittskarte. „Sagt der Walfisch zum Thunfisch: Was soll ich tun, Fisch? sagt der Thunfisch zum Walfisch: Du hast die Wahl, Fisch.” Die Qual der Wahl hat daraufhin das DU, denn ICH darf immer noch nicht an Bord. DU lässt ICH nicht im Stich – gemeinsam trotzen sie dem Wasser. Das Wir gewinnt!
Präzision aus dem Orchestergraben
Tidrow hat diese Botschaft nicht zum Nachsingen komponiert, sondern fordert alle Ohren mit Intervallsprüngen, Clustern und geräuschhaften Sounds stark heraus. Im Team mit Regisseurin Sara Ostertag, Nanna Neudeck (Ausstattung) und Nina Ball (Kostüme) sowie dem prominenten Dramaturgen Sergio Morabito hat sich die Staatsoper ganz einer ästhetisch reduzierten Lesart der Arche-Adaption verschrieben. Stimmig sind die Kostüme von Nina Ball. Ansonsten hätte auch das Auge mehr Sinnlichkeit erfreut. Für das Zielpublikum ist das Highlight der Inszenierung, wenn eine große Schaumkanone ICH und DU in Blubberbläschen versinken lässt. Hannah-Theres Weigl als zärtliches ICH, Florentina Serles als temperamentvolles DU und Alex Ilvakhin als Showmaster Noah, bzw. NOE überzeugen durch musikalisches Niveau und spielerisches Können. Charmant verkörperten die drei die abstrakt angelegten Persönlichkeiten der Geschichte.
Aus dem Orchestergraben hört man erfreuliche Präzision, Markus Henn leitet das kleine Ensemble durch die bisweilen komplexe Partitur. Doch nicht nur dort zeigen die Wiener Philharmoniker ihre Exzellenz: als Teil von Noahs Band stehen sie mit vertrautem sowie mit ungewohntem Instrumentarium wie E-Bass, Synthesizer und Drums-Set auf der Bühne. Damit schaffen sie einen klanglichen Kontrast zu den ansonsten sperrigen Tönen der Oper.
Weit gespannter Bogen für das Programm
Das Bekenntnis zu einem Kinderopernhaus an so exponiertem Ort und das reichhaltige Programm der Saison tröstet über manche Schwächen der Einweihungs-Premiere hinweg. Der Bogen für die Saison ist weit gespannt: Peter und der Wolf treffen auf die Götterdämmerung, Theatermacher Jan Lauwers und die junge österreichische Komponistin Hannah Eisendle gestalten das Programm, Georg Nigl und Nikolaus Ofczarek sind zu Gast und Workshops und Tanzkaraoke haben Platz. Ab dem 13. Dezember ist die Theatergruppe Nesterval gebucht, die mit 16 Schauspielerinnen und Schauspielern das gesamte Haus mit Wagners „Götterdämmerung“ immersiv bespielt. Im NEST wird in den kommenden Jahren Vieles gedeihen: Risikofreude, Opernlust, Diskurs und das Publikum selbst. Wünsche zum Einstand sind Vielfalt, reichlich Fördermittel und Mut zur Melodie!
Nest – Neue Staatsoper Wien
Tidrow: Sagt der Walfisch zum Thunfisch
Markus Henn (Leitung), Sara Ostertag (Regie), Nana Neudek (Bühne), Nina Ball (Kostüme), Hannah-Theres Weigl, Florentina Serles, Alex Ilvakhin, Bühnenorchester der Wiener Staatsoper
Sa, 14. Dezember 2024 11:00 Uhr
Tidrow: Sagt der Walfisch zum Thunfisch
Markus Henn (Leitung), Sara Ostertag (Regie)
Sa, 21. Dezember 2024 11:00 Uhr
Tidrow: Sagt der Walfisch zum Thunfisch
Markus Henn (Leitung), Sara Ostertag (Regie)
So, 22. Dezember 2024 11:00 Uhr
Tidrow: Sagt der Walfisch zum Thunfisch
Markus Henn (Leitung), Sara Ostertag (Regie)
Fr, 27. Dezember 2024 11:00 Uhr
Tidrow: Sagt der Walfisch zum Thunfisch
Markus Henn (Leitung), Sara Ostertag (Regie)
So, 29. Dezember 2024 11:00 Uhr
Tidrow: Sagt der Walfisch zum Thunfisch
Markus Henn (Leitung), Sara Ostertag (Regie)